Filme und Projektmaterialien2023-03-06T12:03:53+00:00
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Filmanalyse

JOJO RABBIT (USA 2019)
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Filmplakat Jojo Rabbit

Eine deutsche Kleinstadt in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs. Der zehnjährige Johannes „JojoBetzler ist ein glühender Verehrer der Nazis. Er nimmt an einem Grundausbildungscamp der Hitlerjugend unter der Leitung des eigenwilligen Hauptmanns Klenzendorf teil.Dort soll er einen Hasen ermorden, um seine Stärke zu beweisen. Doch Jojo bringt es nicht übers Herz, was zu viel Gelächter, Unverständnis und ihn zu seinem Spitznamen Jojo Rabbit führt. Bei dem Versuch, sich vor der Gruppe zu rehabilitieren, widerfährt Jojo ein Missgeschick, er erleidet eine Verletzung und wird für einen Monat von der Schule freigestellt. Bedingungslos zur Seite steht Jojo zum Glück sein imaginärer Freund – Adolf Hitler. Er spricht Jojo Mut zu und bestätigt ihn stets in seinem Wunsch, ein perfekter Nationalsozialist zu werden. 

Jojos Vater kämpft in Italien an der Front, seine Schwester Inge ist kürzlich verstorben und seine alleinerziehende, selbstbewusste Mutter ist viel außer Haus. Eines Tages hört Jojo merkwürdige Geräusche im oberen Stockwerk. Als er die Geräuschquelle aufspürt, stößt er unvermittelt auf Elsa, eine jüdische Jugendliche, die von Jojos Mutter hinter einer Drempelzwischenwand versteckt gehalten wird. Bei all der verinnerlichten Nazi-Ideologie versetzt diese Begegnung Jojo einen schweren Schock. Gemeinsam mit dem imaginären Hitler entwickelt er Strategien, um den ungewollten Fremdkörper wieder loszuwerden. Doch nach und nach entsteht zwischen Jojo und Elsa trotz aller Widerstände eine Freundschaft. Und Jojo beginnt sich zu fragen, warum er sich mit Elsa so gut versteht. Und warum sie nicht hinterhältig und bösartig ist, obwohl die Nazis dies propagieren. Und auch warum all die Nazis, denen er begegnet, gemein oder unfähig sind. 

Gegen Ende des Films marschieren die alliierten Kräfte in die Kleinstadt ein. Hauptmann Klenzendorf rettet Jojo, indem er ihn als Juden tituliert. Der imaginäre Hitler wird von Jojo aus dem Fenster geworfen und Elsa und Jojo tanzen in die Freiheit. 

JOJO RABBIT (USA 2019) entstand unter der Regie des neuseeländischen Filmemachers Taika Waititi. Er basiert lose auf der Romanvorlage „Caging Skies von Christine Leunens. Als Ausdrucksform wählt Waititi die Satire mit all ihren stilistischen Merkmalen, wobei die Untertreibung als bewusste, scheinbare Bagatellisierung des Geschehens im Vordergrund steht. Dabei stellt sich im Kontext von JOJO RABBIT sogleich die Frage, ob es angemessen ist, über einen bösartigen Diktator und die unterjochende Ideologie seines Systems zu lachen. Die gleiche Frage stellte sich beispielsweise bei THE GREAT DICTATOR (USA 1940), THE PRODUCERS (USA 1968) oder TO BE OR NOT TO BE (USA 1942). Diese Frage lässt sich nicht konsensuell beantworten, doch Risiken und Möglichkeiten einer solchen Annäherung an ein so dunkles historisches Kapitel bieten eine vielschichtige Diskussionsgrundlage. Viel entscheidender ist aber die Frage, mit welchem Ziel Waititi seine Gattungswahl verbindet. Die satirischen Elemente erfüllen in JOJO RABBIT gleich mehrere Zwecke: Sie demaskieren eine unmenschliche politische Ideologie, veranschaulichen die emotionale Verwirrung der jungen Hauptfigur und erzeugen eine Diskrepanz. 

Bereits am Filmanfang entscheidet sich Waititi für einen bewusst gewählten anachronistischen Bruch, indem er die drastischen Wochenschauausschnitte mit der deutschen Version desBeatles-Songs „I Wanna Hold Your Hand“ musikalisch konterkariert. Waititi schafft mit Mitteln der Popkultur eine Dekontextualisierung und kreiert einen Zugang zur Thematik, der fremd erscheint, aber eine Übertragung der Thematik auf aktuelle gesellschaftspolitische Problemstellungen ermöglicht und einem jugendlichen Publikum möglicherweise entgegenkommt. Es folgt die völlige Überzeichnung der Figuren Hauptmann Klenzendorf und Fräulein Rahm, die als Karikaturen sämtliche Klischees übertreffen und deren Gedankengut ins Lächerliche gezogen wird. In diesem Kontext ist auch die Bücherverbrennung zu nennen, die als spaßiges Freizeitevent im Jugendcamp inszeniert wird. Um diese komödiantische Überzeichnung zu decodieren, müssen die Zuschauer*innen allerdings über ein historisches Vorwissen verfügen. 

Als die Gestapo bei Jojo eine Hausdurchsuchung vornimmt, ist die Gefahr dieses Moments durchaus spürbar, wird aber durch eine erneute Figurenüberzeichnung (unter anderem in Form des sich wiederholenden Begrüßungsrituals) und die Oszillation der Gestapo-Beamten zwischen Risiko und Lächerlichkeit deutlich abgemildert. Obwohl der Ton des Films in der zweiten Hälfte insgesamt ernster wird, stellt sich ein teils abrupter, wiederkehrender Wechsel von Jojos emotionalem Zustand zwischen Traurigkeit und Fröhlichkeit ein. Dieses Alternieren lässt sich als Kennzeichen eines Weges zur Individuation lesen, auf dem sich häufig solche emotionalen Verwirrungen ereignen. Insgesamt gelingt es Waititi, eine Balance zwischen absurden, albernen, humorreichen Szenen und dem Wissen über den tatsächlich geschehenen Horror herzustellen. 

Das Motiv des imaginären Freundes ist im Film keine Seltenheit. Sowohl bei erwachsenen Figuren, wie in HARVEY (USA 1950) oder CAST AWAY (USA 2000) als auch bei jungen Figuren wie in der KNERTEN-Reihe (NOR 2009 – 2010) oder BOGUS (USA 1996) treten solche Fantasiefreunde an die Seite der Protagonist*innen. Auch in der Alltagswirklichkeit gelten Fantasiefreunde bei Kindern keinesfalls als außergewöhnlich. In Filmen entstehen imaginäre Freunde häufig aus Einsamkeit, aus einer gewissen inneren Leere, psychischen Dissonanzen oder als Surrogat für ein absentes Familienmitglied. Während in den meisten Fällen allerdings fantastische Gestalten imaginiert werden, setzt Waititi eine reale Person ein. Adolf Hitler nimmt als imaginäre Gestalt den Platz von Jojos Vater ein. Er ist es, der Jojo unterstützt, ihn bestärkt und mit Ratschlägen zur Seite steht. Wenn man die Eigenschaften und das Handeln der imaginären Figur allein buchstäblich betrachtet und das Vorwissen über die reale Person außer Acht lässt, dann weist Hitler vor allem im ersten Akt des Films durchaus sympathische Züge auf und nimmt für Jojo eine Vorbildrolle ein. Dadurch wird eine dramaturgische Fallhöhe etabliert und in eine Abwärtsspirale überführt, die schließlich in der Niederlage endet. Denn Jojo vertraut zunächst auf Hitlers Hilfestellungen, Ermutigungen und Anweisungen. Dann beginnen Jojos Zweifel, die ihn gegenüber Hitler wortkarg werden lassen und schließlich widersetzt er sich ihm. Emblematisch ist dann die kurze Abendessenszene im letzten Akt. Jojo sitzt am Kopf des Tisches und verspeist kleine Kartoffeln, die er bei einem Streifzug durch die Stadt mühsam zusammengesucht hat, während Hitler am anderen Ende des Tisches sich in hedonistischer Manier der Völlerei hingibt und auf der Servierplatte vor ihm ein gegarter Einhornkopf arrangiert ist. Die Kommunikation zwischen ihnen kommt zum Erliegen und ihr Auseinanderdriften wird durch eine Kamerafahrt vom einen zum anderen Ende des Tisches sinnbildlich visualisiert. Später bäumt sich der imaginäre Freund noch ein letztes Mal auf, diesmal nicht mit einem freundschaftlichen, sondern impulsiv diktatorischen Tonfall, der zu einem kleinlauten wird, als Jojo sich den Anweisungen widersetzt. Schließlich tritt ihn Jojo mit voller Kraft aus dem Fenster – raus aus dem Haus, raus aus seinen Gedanken. 

Im Film steht Hitler aber nicht nur für den Vater eines deutschen Kindes, sondern sinnbildlich für den Vater der Nation, dessen väterliche Rolle im Verlauf des Films zu bröckeln beginnt und schließlich als Chimäre enttarnt wird. 

Jojo ist ein Opfer der Ideologie, ein Junge, der dazugehören möchte, ein Kind, das noch nicht die Fähigkeit besitzt, die allgegenwärtige politische und ethische Gesinnung einordnen zu können, die permanent auf es einwirkt. Jojo wächst in einem System der Unterdrückung und Indoktrination auf, das einen gesellschaftlichen Druck erzeugt, dem sich Kinder nicht oder nur kaum entziehen können. Eine unangefochtene Idealisierung Hitlers und eine Omnipräsenz der Denunziation prägen Jojos Leben ebenso wie der blinde Hass auf Juden und die Erziehung euphoriebereiter Minderjähriger zu kriegstauglicher Folgsamkeit. Daher ist es Jojos primäres Bestreben, als erfolgreiches und funktionierendes Zahnrad in dieser Maschinerie zu partizipieren. Die Erkenntnis Jojos, mit den anderen nicht mithalten zu können, reißt jedoch eine Wunde in sein Inneres, die tiefer ist als seine äußerlich sichtbare. 

Metareflexiv stellt sich für die Zuschauer*innen die Frage, wie sie sich selbst in dieser Lebenswelt positioniert und verhalten hätten – und zwar als Kind. Denn es ist die Gewissensnot seines Protagonisten, die der Film immer ernst nimmt, und es ist die konsequente Inszenierung aus der kindlichen Perspektive mit der Kamera auf Augenhöhe, die der Film vermittelt. Wären wir als Kind in der Lage gewesen, die Trugmacht falscher Bilder zu durchblicken? Damit einher geht der Wunsch, dass es Jojo gelingen möge, aus dem unmenschlichen Wertesystem auszubrechen. Doch wie, wann und wodurch kann es ihm gelingen? 

JOJO RABBIT zeigt, dass Kinder zwar auf etwas geprägt werden können, sich aus solch einer negativen Prägung aber herausentwickeln und verändern können. Die naive Übernahme von Werten und Idealen muss zu keinem fest betonierten Fundament werden, sondern besitzt eine Durchlässigkeit, in die eigene Erfahrungen große Löcher schlagen können. Im Film geschehen mehrere Ereignisse, die Jojos Entwicklung katalysieren. Auf die Frage, welches Moment den Wendepunkt in Jojos Entwicklung markiere, herrschte bei den Schüler*innen Uneinigkeit. Einige sahen den Wendepunkt durch den Tod der Mutter herbeigeführt, andere durch die Begegnung mit Elsa, wieder andere durch die Erfahrung der Hausdurchsuchung. Ein Wendepunkt entsteht, wenn sich eine Figur ein neues und von dem vorherigen stark abweichendes Ziel setzt. Im Falle von Jojo markiert der Entschluss, nicht länger dem System zu folgen, sondern Elsa zu retten, den entscheidenden Wendepunkt. Jojos Entschluss wird dabei von der Entscheidungsfrage bestimmt, ob er ein Nazi oder ein guter Mensch sein will. 

Der Weg dorthin wird allerdings durch mehrere Ereignisse, Erlebnisse und Erkenntnisse bereitet. Begleitet werden sie von Jojos innerer Zerrissenheit, die durch das zunehmende und teilweise rasant alternierende Wechselbad diametral entgegengesetzter Gefühle transportiert wird. Bereits im Jugendcamp entscheidet sich Jojo, den Hasen am Leben zu lassen, statt ihn, wie verlangt, zu töten. Diese Handlung ist retrospektiv als Vorbote für die Wendepunktentscheidung zu lesen, in der Elsa symbolisch an die Stelle des Hasen rückt. Eine weitere Trübung erfährt seine Weltanschauung, als Jojo auf dem Zentralplatz der Kleinstadt die aufgeknüpften Leichname sieht, was eine Vorausdeutung auf den Tod der Mutter darstellt. Dass sich diese wiederum ohne Jojos Wissen dem Widerstand angeschlossen hat, bringt Jojos Weltbild weiter ins Wanken. 

In der zweiten Hälfte des Films, wenn der Erzählton zwar nicht durchgängig aber merklich ernster wird, wird Jojos Sicht und damit auch die Sicht der Zuschauer*innen zunehmend auf die Opfer gelenkt – seine Mutter und vor allem Elsa. Das Fremde lauert auf Jojo hinter einer geheimen Tür – ein bekanntes Motiv aus fantastischen Kinder- und Jugendfilmen. Ebenso üblich ist der Wunsch, das Fremde wieder loszuwerden. Jojo und Hitler entwickeln mehrere, aber erfolg- und wirkungslose Strategien. Mit der Zeit erkennt Jojo das Menschliche im Unmenschlichen, entgegen der diffamierenden Ideologie, die ihm eingetrichtert wurde. Seine Weltanschauung wird unterminiert und Elsa als Jüdin entpuppt sich vielmehr als gute Freundin, denn als Monster. Und so beginnt Jojo, einen eigenen moralischen Kompass zu entwickeln, aufgrund der Situationen und Geschehnisse, die ihm widerfahren, die er sieht und erlebt. Er emanzipiert sich von der vorherrschenden Ideologie. Die Emanzipation Jojos mündet in der Selbstbehauptung und Ausbildung einer eigenen Identität mit einer eigenständigen, progressiven Haltung. Hierbei zeigen sich die ebenso vorhandenen Coming-of-Age-Anteile des Films. 

JOJO RABBIT enthält einige Botschaften, die sich auf die Gegenwart übertragen lassen. Dazu zählen das unvoreingenommene Miteinander bspw. unterschiedlicher Religionen und die Emanzipation von Ideologien und trügerischen Bildern. Als Vermittlungskern des Films sahen die Schüler*innen vor allem Toleranz, das Vertrauen auf eigene Erfahrungen und das kritische Hinterfragen von Allgemeinplätzen, Phrasen und Klischees. Sie formulierten dabei Aussagen, dass man nie über jemanden urteilen solle, den man nicht kenne oder dass man sich von Menschen selbst ein Bild machen und nicht anderen blind vertrauen solle. Auch die große Bedeutung des interkulturellen Austausches wurde betont. Und genau dieser bildet die Grundlage für die Befreiung der beiden Hauptfiguren am Ende des Films. Elsa wird aus dem Verfolgtsein befreit, Jojo aus dem engen Korsett der Nazi-Ideologie entbunden. Gegen Ende des Films konstatiert Jojos Freund Yorki, es sei keine gute Zeit, um ein Nazi zu sein. Und JOJO RABBIT veranschaulicht auch einem jungen Publikum, dass es nie eine gute Zeit dafür geben dürfe. 

Dr. Gregory Mohr, Filmwissenschaftler 

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LOVE, SIMON (USA 2018)
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Filmplakat Love Simon

LOVE, SIMON (USA 2018) wurde von Regisseur Greg Berlanti inszeniert, der sich zuvor bereits dezidiert mit Jugendthemen (unter anderem in der Serie RIVERDALE (USA 2017 – ) auseinandersetzte. Basierend auf Becky Albertallis Debütroman Simon vs. the Homo Sapiens Agenda aus dem Jahr 20151, erleben wir die Geschichte des 17-jährigen Simon Spier. Er wächst in einer US-amerikanischen Bilderbuch-Vorstadt inmitten einer liebevollen Familie auf und besucht, umgeben von guten Freunden, die örtliche Highschool. Simons Leben scheint perfekt, doch trägt er ein Geheimnis mit sich, das schwer auf seinen Schultern lastet: Simon ist homosexuell.

Als eines Tages jemand unter dem Pseudonym „Blue“ im Blog der Schule einen Post veröffentlicht, in dem er gesteht, sich zu Männern hingezogen zu fühlen, nimmt Simon Kontakt zu ihm auf. Daraus entwickelt sich ein reger, inniger, aber anonymer Mail-Verkehr. Die beiden bauen Vertrauen zueinander auf und Simon verliebt sich. Doch als Simon vergisst, sich am Schulcomputer auszuloggen, wird sein Mitschüler Martin auf die Mails aufmerksam und beginnt, ihn damit zu erpressen. Simon sieht keine andere Möglichkeit, als sich darauf einzulassen. Er hilft Martin, das Herz der Mitschülerin Abby zu erobern. Allerdings lässt sich Abby nicht darauf ein, woraufhin der frustrierte Martin die kompromittierenden Mails im Schülernetzwerk veröffentlicht. Sowohl Blue als auch seine Freunde distanzieren sich daraufhin von Simon – nicht aufgrund seiner Homosexualität, sondern vielmehr, weil er diese vor ihnen verheimlicht hat.

Simons Familie zeigt großes Verständnis für seine sexuelle Orientierung und nach einem homophoben Vorfall in der Schul-Cafeteria wenden sich auch Simons gekränkte Freunde ihm wieder zu. Um Blue zu finden und ihm seine Gefühle zu gestehen, lädt ihn Simon öffentlich zum Riesenrad des örtlichen Winterjahrmarkts ein. Als es schon fast zu spät scheint, erscheint Blue, begibt sich zu Simon auf das Riesenrad und nach einem kurzen Gespräch küssen sich die beiden.

1 https://beckyalbertalli.com/

Greg Berlanti überführt diese Story in eine chronologisch und konventionell erzählte Dreiakt-HighschoolKomödie mit emotionalen Höhen und Tiefen der Hauptfigur, die in einem Happy End kulminiert. Das leicht realitätsenthobene Setting bedient sich der üblichen Schauplätze (Schulkorridore, Mensa, Schulsportstätten), ist in Hochglanzoptik produziert und spielt auf der Klaviatur der konfektionierten Plot-Mechaniken seines Genres. Die Frage, ob diese Story überhaupt erzählenswert sei, schiene durchaus legitim – wenn es nicht diesen einen Konfliktpunkt gäbe, der die Konventionen der HighschoolKomödie unterminiert. Im Mainstream blieben diese Geschichten nämlich bisher heterosexuellen Hauptfiguren vorbehalten. Homosexuelle Figuren erschienen höchstens als Sidekicks oder Randnotiz, um eine suggerierte Diversität herzustellen. Allein die im Grunde banale Tatsache, dass LOVE, SIMON einen homosexuellen Protagonisten ins Zentrum des Geschehens stellt und die Ereignisse durch seine Perspektive vermittelt, verleiht dem Genre einen frischen Wind. Am Ende des Films muss man sich die Frage stellen, warum eigentlich solche HighschoolPopcorn-Abenteuer bisher den heterosexuellen Figuren vorbehalten blieben. Ein weiterer spannender Effekt ist, dass LOVE, SIMON gerade aufgrund der Anwendung sämtlicher Genre-Paradigmen und der daraus resultierenden Vorhersehbarkeit „eine zu erwartende Heimeligkeit schafft, in der die eine einzige Devianz – das Schwulsein – auch und vor allem für ein heterosexuelles Publikum auf eine Art aufbereitet wird, die in allen Grundzügen bekannt ist und als harmlos wahrgenommen wird.2 (Beatrice Behn in kino-zeit).

2 https://www.kino-zeit.de/kritikdruck/40636/kritik1

„Ich bin genau wie du. Im Wesentlichen ist mein Leben völlig normal. Nur dass ich ein riesiges Geheimnis habe.“ Mit diesen Worten seines Protagonisten beginnt LOVE, SIMON. Mit den Termini „Normalität“ und „Geheimnis“ werden zwei Platzhalter etabliert, die in der Folge schnell vom gleichen Begriff besetzt werden – Homosexualität. Gleich zu Beginn gelingt dem Film damit zweierlei: Erstens wird Homosexualität mit Normalität gleichgesetzt und zweitens teilt Simon sein Geheimnis mit den Rezipienten, sodass diese durch die interne Fokalisierung zu Mitwissern und Verbündeten werden. Die Zuschauenden werden kognitiv nicht primär damit ausgelastet, Hypothesen aufzustellen, um Simons Geheimnis zu lüften, vielmehr können sie sich auf andere Fragen konzentrieren, die Homosexualität als gegeben annehmen.

Der Film behandelt die Homosexualität seines Protagonisten auf eine ungezwungene Weise. Das Attribut „normal“ wurde von den Schüler*innen in Bezug auf Simon am häufigsten genannt. „Würde er nicht sagen oder erwähnen, dass er schwul ist, würde man es nicht merken.“ (Jana, 17 Jahre). Die meisten Schüler*innen gehen zwar auf die Homosexualität als eine Form der sexuellen Orientierung ein; sie wird von ihnen aber als alltäglich wahrgenommen. Wo Schüler Simon als „Schwuli“ und seine homophoben Antagonisten als „Ehrenmänner“ titulieren, bringen sie ihre eigene Homophobie zum Ausdruck.

Zwei zentrale Makrofragen begleiten das Filmerleben: Wie und wann wird Simons Geheimnis publik? Die Beantwortung kommt für Simon unwillentlich, ist für ihn emotional schmerzhaft und bildet den Plot Point vor dem letzten Akt. Wer ist Blue und wird Simon ihn in der Offline-Welt treffen? Die Auflösung dieser zweiten Makrofrage wird von Simon willentlich herbeigeführt, emotional ebenso aufreibend, aber ein Glücksgefühl, sodass der Film sein Publikum mit einem Happy End entlässt.

Zwischen dem inneren Comingout zu Beginn, dem gesellschaftlichen Coming-out und schließlich dem Happy End muss Simon allerdings einige Probleme bewältigen und unterschiedliche Gefühlswelten durchleben. Zunächst stehen seine Zweifel, Sorgen und Ängste im Vordergrund. Sie haben sich den Schüler*innen nachvollziehbar mitgeteilt: „Er hat Angst, dass die perfekte Welt, in der er lebt, zerbricht.“ (Klara, 20 Jahre). Das Verorten der Hauptfigur in eine sehr idyllische Welt, steigert gleichermaßen ihre Fallhöhe. Außerdem hat Simon „… Angst, dass seine Freunde und Familie sich ihm gegenüber anders verhalten als zuvor.“ (Jana, 17 Jahre) und ein Verlust der vertrauten Lebenswelt eintreten könnte. Wie den meisten Jugendlichen ist es Simon sehr wichtig, wie andere ihn wahrnehmen. Er befürchtet, dass sich das Fremdbild durch sein Coming-out verändern wird und sich eine Verschiebung ins Negative einstellt, die sich in Aversionsbekundungen artikuliert. „Er hat Angst, was die anderen denken werden […] hat Angst diskriminiert, ausgelacht, gemobbt zu werden, wenn er die Wahrheit ausspricht.“ (Islam, 19 Jahre). Stilistisch unterstützt werden diese Ängste, indem die Kamera mehrfach Simons Blick imitiert, um dann im Gegenschnitt den Blick der anderen auf Simon zu visualisieren.

Diesen aus seiner Sicht realitätsangemessenen Befürchtungen möchte Simon aus dem Weg gehen und so entwickelt sich daraus ein klassisches Vermeidungsziel. Dieses wird dramaturgisch betrachtet zu seinem want, seinem zentralen Anliegen und steht an der Spitze der Zielhierarchie. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Simon seinem Umfeld etwas vortäuschen. Dies führt wiederum dazu, dass er „… sein Leben nicht so leben kann, wie er möchte, weil er sich immer verstellen muss.“ (Nancy, 17 Jahre) und dementsprechend „… eine Maske trägt.“ (Arina, 17 Jahre). Aufgrund seiner Ängste lässt sich Simon auf die Erpressung durch Martin ein und hintergeht seine Freund*innen, die sich, als die Wahrheit ans Licht gelangt, zunächst von ihm abwenden. Auch visuell spiegelt sich diese Distanzierung wider, indem die Kamera die räumliche Distanz zwischen ihnen spürbar vergrößert. „Die Reaktionen der anderen sind verständlich. Aufgrund der Veränderungen wurde das gegenseitige Verhältnis gestört und sie wurden [durch Simons Lügen] an ihrem eigenen Glück gehindert.“ (Celina, 19 Jahre). „Würde ein Freund mir nicht sagen, dass er schwul ist, würde ich automatisch denken, dass er es mir nur nicht erzählt, weil er mir nicht genug vertraut oder denkt, ich würde das nicht akzeptieren. Dabei sind Freunde genau dafür da, sich bei ihnen wohlzufühlen, ihnen zu vertrauen und sich auch gegenseitig zu unterstützen.“ (Nancy, 17 Jahre). Nach der anfänglichen Kränkung durch den Vertrauensmissbrauch verzeihen seine Freund*innen Simon jedoch und unterstützen ihn. Dies demonstriert dem jugendlichen Publikum, dass ein Fehlverhalten keine engen Freundschaften zerstört, wenn man es wie Simon erklären kann, um Entschuldigung bittet und die Bereitschaft besteht, zu vergeben. Besser ist, seinem engen sozialen Umfeld zu vertrauen und seine Sorgen zu kommunizieren. Simon wäre so die Negativerfahrung eines fremdbestimmten Coming-out erspart geblieben. Simons Freunde „… müssen aber auch verstehen, dass das Outing ein großer und für viele ein schwieriger Schritt ist und man Zeit braucht, um sich zu überwinden.“ (Jana, 17 Jahre). Dabei spielt Empathie eine entscheidende Rolle. „Ich wäre ebenfalls enttäuscht, doch man sollte sich ebenfalls in Simons Lage versetzen, um zu verstehen, warum er es getan hat.“ (Murat, 18 Jahre). Dass Simons Freunde schließlich für ihn da sind, als er sich in einer Krise befindet, festigt die Freundschaft und trägt wesentlich dazu bei, dass Simon eine entscheidende Identitätsentwicklung vollziehen kann.

Nicht nur Simons Befürchtungen in Bezug auf seine Freund*innen waren unbegründet, sondern auch in Bezug auf seine Eltern. „Seine Eltern sind eine große Unterstützung für ihn, weil er so akzeptiert wird, wie er ist.“ (Iman, 19 Jahre) und „… sie seine Sexualität akzeptieren.“ (Amna, 17 Jahre). „Du bist immer noch du. Du bist für mich immer noch derselbe Sohn.“, gibt seine Mutter Simon zu verstehen und fügt hinzu: „Du kannst jetzt wieder ausatmen, Simon.“ Damit äußert sie nicht nur ihr Verständnis bezüglich Simons sexueller Orientierung, sondern gleichfalls ihr Einfühlungsvermögen bezüglich der erdrückenden Last, die zuvor auf Simon einwirkte und sinnbildlich sein Atmen erschwerte. War das unwillentliche Coming-out zuvor für Simon schmerzhaft, erhält es an dieser Stelle die Qualität eines Befreiungsschlags. Das wird in einer emotionalen Szene zwischen Simon und seinem Vater unterstrichen. Wenn man jemanden unterstützt, der sich outet, geht es der Person viel besser.“ (Dilara, 19 Jahre). Diese Devise wird in LOVE, SIMON unmissverständlich bestätigt und kann von den Schüler*innen in die eigene Lebenswirklichkeit übertragen werden.

Trotz all der Unterstützung, die Simon von den Menschen, die ihm wirklich wichtig sind, erfährt, stößt er dennoch auf antagonistische Kräfte. Martin entlarvt Simons Geheimnis und missbraucht es für seine Zwecke. Deswegen wird Martin auch als „… ein Egoist [wahrgenommen], der nur an sich selbst denkt und seine Wünsche, ohne dabei auf andere zu achten.“ (Iman, 19 Jahre). Martin handelt zwar in seinem eigenen Interesse, wird dabei allerdings nicht als homophobe Figur dargestellt. Er nutzt vielmehr das Geheimnis einer anderen Figur für sich aus. So betrachtet ist die Homosexualität gegen ein beliebiges anderes Geheimnis austauschbar. Am Ende des Films rehabilitiert sich Martin sogar, als er Simon in der finalen Szene unterstützt. Ganz im Gegensatz dazu stehen die Figuren Aaron und Spencer, die Simon nach seinem Comingout in der Schul-Cafeteria öffentlich diffamieren. „Leute aufgrund ihrer Sexualität zu mobben, ist sehr schlimm.“ (Klara, 20), „… man kann nie wissen, was man mit einem Menschen macht, wenn man ihn vor der ganzen Schule bloßstellt und sich über ihn lustig macht.“ (Nancy, 17). Und so wurde das Verhalten der beiden auch als „… einfach asozial, lächerlich und abwertend (Ylenia, 18 Jahre) von den Schüler*innen wahrgenommen.

Filmhistorisch betrachtet wurden Coming-out-Geschichten häufig mit Tragik, Qualen, elterlicher Wut, sozialer Exklusion, der Angst vor Krankheiten oder sogar dem Tod verknüpft. Damit wurden schonungslos die Risiken aufgezeigt, die es in einer homophoben Welt zu überwinden gilt. Simons integriertes Umfeld wird zwar erschüttert, sein Comingout aber endet nicht in einem Desaster. Wie so häufig in einer klassischen Dramaturgie misslingt Simons want. Nachdem er aber sein Dilemma überwunden hat, öffnet sich dadurch der Weg für sein need“ – sein inneres Bedürfnis, welches im letzten Akt des Films zum primären und sich letztlich einlösenden Ziel erhoben wird. In ihrem Standardwerk „Queer Cinema“ bezeichnet Barbara Mennel3 die Desexualisierung homosexueller Figuren als ein typisches Merkmal. Das Erwachen der jugendlichen Sexualität wird zwar in vielen Highschool-Komödien zu einem zentralen Thema. Es wird dabei aber selten, so auch in LOVE, SIMON explizit dargestellt Es lohnt sich dennoch, festzuhalten, dass die körperliche Nähe und der finale Kuss zwischen Simon und Blue mit der gleichen Selbstverständlichkeit inszeniert wurde, wie es die Zuschauer*innen aus heterosexuellen Beziehungen im Film kennen. Diese Natürlichkeit unterstreicht die bemerkenswerte subtile Unauffälligkeit, mit der LOVE, SIMON die Homosexualität als Normalität vermittelt.

Der Film LOVE, SIMON ist „… ein Beispiel für Akzeptanz.“ (Celina, 19 Jahre), der seine Botschaften zu keinem Zeitpunkt einem moralinsauren Beweggrundopfert. Daher wirkt er auf das jugendliche Publikum nicht belehrend und vermittelt dennoch, dass „… man niemals jemanden wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminieren sollte.“ (Dilara, 19 Jahre). Simon verkörpert Jugendliche, die bestimmte Facetten ihres Selbst hinter einer Alltagsmaske verstecken, weil sie ihnen als gesellschaftlich nicht vollumfänglich akzeptiert erscheinen oder vermittelt werden. „Der Film spiegelt das Leben vieler Menschen wider und könnte für sie eine Hilfe sein.“ (Islam, 19 Jahre). LOVE, SIMON ist nicht auf die Geschichte einer homosexuellen Hauptfigur reduzierbar. Die Story ist vielmehr universeller zu verstehen, als eine, die die Emanzipation einer jugendlichen Figur erzählt. Diese Figur findet am Ende ihr Glück durch den vielleicht universellsten Schlüssel: durch die Liebe, die für sämtliche Zuschauer*innen nachvollziehbar ist. Dabei ist es gleichgültig, welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt und welches Geschlecht man begehrt.

Dr. Gregory Mohr, Filmwissenschaftler

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NUR EINE FRAU (D 2019)
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Filmplakat Nur eine Frau

Die willensstarke und selbstbewusste Aynur ist die 15-jährige Tochter kurdischer Eltern sunnitischen Glaubens. Diese zogen in den 1970er Jahren von Ostanatolien nach Berlin-Kreuzberg, wo sie heute mit ihren Kindern in einer kleinen Wohnung leben. Auf Anordnung ihrer Eltern muss Aynur das Gymnasium abbrechen, um in Istanbul mit einem entfernten Verwandten eine arrangierte Ehe einzugehen. Ihr Mann schlägt sie, auch als sie bereits schwanger ist, und Aynur kehrt zurück nach Berlin. Ihre Eltern sind wenig erfreut, weil sich Aynur dem Willen ihres Ehemanns widersetzt. Sie nehmen sie aber auf und bringen sie mit ihrem Baby in einer fensterlosen Abstellkammer unter. In der Enge der familiären Situation wird Aynurs Wunsch nach Selbstbestimmung immer größer. Sie zieht in ein Frauenhaus, später in eine eigene Wohnung, holt ihren Hauptschulabschluss nach, beginnt eine Berufsausbildung, knüpft neue soziale Beziehungen und legt ihr Kopftuch ab. Doch dann fasst ihre Familie den Beschluss, dass ihre Ehre nur durch einen Mord wiederhergestellt werden kann. Nuri, der jüngste Sohn der Familie, ermordet Aynur mit drei Kopfschüssen an einer Bushaltestelle. 

NUR EINE FRAU (D 2019) basiert auf wahren Ereignissen. Der Mord an Hatun Aynur Sürücü am 7. Februar 2005 erzeugte hohes mediales Interesse und löste eine kontroverse Debatte über Zwangsehen und das Wertesystem erzkonservativer, muslimischer Familien in Deutschland aus. 14 Jahre später erschien die von Sandra Maischberger produzierte und von Regisseurin Sherry Hormann inszenierte Adaption von Aynurs Schicksal im Kino. NUR EINE FRAU beginnt mit einer kurzen internen Prolepse (Aynurs Tod) und erzählt sodann die Chronik dieses angekündigten Todes. Durch den Realitätsgehalt der Ereignisse und das Einmontieren von Archivaufnahmen, Privatvideos und Originalfotos sowie das Drehen an Originalschauplätzen erhält NUR EINE FRAU einen stark semi-dokumentarischen Charakter und damit einen geringen Fiktionalitätsgrad. Eine weitere visuelle Rhythmisierung erhält der Film durch die Einbettung sequenzierter Standbilder und Text-Inserts, die einem Fotoroman ähneln. Dabei werden vom Bundeskriminalamt angeführte Gründe, die zum Tatbestand „Ehrenmord“ führen können, sukzessive als Texttafeln integriert. Außerdem folgen Texteinblendungen in bewegten oder Standbildern (wie „Bruder 1“ etc.). Diese Insertierungen führen zu einer zusätzlichen Versachlichung der Erzählung. 

Das wohl markanteste und von den Schüler*innen am häufigsten thematisierte Stilmittel des Films ist das autodiegetische Voice-Over. Aynur erzählt ihre Geschichte selbst aus dem Jenseits – einer räumlichen wie zeitlichen Distanz. Sie tut dies mit lebensnahen, wenig konstruiert wirkenden Äußerungen und einer nüchternen Erzählhaltung, einer als sachlich zu empfindenden Stimme, sodass oftmals eine Diskrepanz zwischen dem auditiv Erzählten und den gleichzeitig dargestellten Bildern entsteht. Aynur erzähle „nur von den Fakten und gibt den Zuschauern die Möglichkeit, die Situation selbst zu fühlen, darüber nachzudenken.“ (Anastasia, 22 Jahre). Neben dieser reflexiven Funktion erkannten die Schüler*innen auch eine Verstärkung der Anbindung an die Figur durch das Voice-Over sowie dessen Kommentar- und Erläuterungsfunktion. Man könne „sich gut in sie [Aynur] hineinversetzen und ihre Geschichte besser verstehen.“ (Carolina, 16 Jahre) und verstehe „wichtige Situationen oder Handlungen besser.“ (Jana, 17 Jahre) 

Obgleich NUR EINE FRAU auf Tatsachen basiert, wurde für die filmische Adaption eine Dramaturgie entwickelt, die sich aus den realen Geschehnissen speist. Dabei finden sich Kontrastfiguren, deren Lebensentwürfe kollidieren und zu Konflikten führen, Figuren, die sich entwickeln, und Figuren, die eine Entwicklung verweigern. Aynurs Eltern werden durch einen Veränderungsunwillen charakterisiert, wobei sich die Mutter als treibende Kraft entpuppt, während die Inszenierung von Aynurs Vater häufig dessen Müdigkeit unterstreicht, die seine Flucht, das Leben in einer fremden Kultur, viele Jahre der körperlichen Arbeit und das Großziehen zahlreicher Kinder zwangsläufig mit sich bringt. Er wirkt manchmal, als würde er Aynurs Abschweifungen tolerieren wollen, wenn seine Bindung an die traditionellen Werte ihn nicht daran hinderte. 

Einige von Aynurs Geschwistern vollziehen eine Entwicklung. Zwei der Brüder entwickeln sich dabei in konträrer Richtung. Aynurs älterer Bruder Aram nabelt sich von der Familie ab und beginnt ein Studium in Köln. Als sich die Ereignisse zuspitzen, bittet er Aynur, ihm zu folgen, der Familie den Rücken zu kehren oder sich räumlich maßgeblich von ihr zu distanzieren. Der jüngste Bruder, Nuri, begeht letztendlich den traditionellen Vorschriften entsprechend den Mord. Seine Veränderungen, die schleichend zur Eskalation führen, werden behutsam in die Erzählung eingestreut. Zunächst ist er der junge, sich kümmernde und bemühende Bruder, dessen Unkenntnis ihn zunächst daran hindert, überhaupt zu verstehen, was die Zerrüttung des Binnenklimas der Familie auslöst. Zaghaft beginnt Nuri das Boxen mit seinem älteren Bruder im Schlafzimmer zu üben, tritt später in einen Boxclub ein und ist dort in seinem Überschwang kaum von seinem Trainer zu bremsen. Von Tarik lässt er sich dann überreden, den archaischen Traditionen zu folgen und regelmäßig zu einem radikalen Prediger zu gehen. Nuri partizipiert an dem Telefonterror der beiden Brüder, lässt sich von ihnen instrumentalisieren und instrumentalisiert wiederum andere für seine Interessen. Schließlich tötet er und entstellt dabei bewusst das Gesicht seiner Schwester, um das Gesicht der Familie wiederherzustellen. 

Weil Aynur im Zentrum der Erzählung steht und eindeutig als Ereigniskatalysator fungiert, kommt ihre Entwicklung am deutlichsten zum Tragen. Ihre Veränderung wird angetrieben durch ihren Charakter und ihre Persönlichkeitsentwicklung sowie  durch ihre zunehmenden Verstöße und Brüche mit der kulturellen Familientradition. Ihre Willensstärke und ihren Mut besitzt sie schon zu Beginn, als sie ihren Ehemann verlässt. Diese Attribute befähigen sie dazu, nicht vor ihrer Familie einzuknicken. Konsequent geht sie ihren Weg und vollzieht dabei den zusätzlichen Kraftakt, ein Baby großzuziehen, ihren Schulabschluss nachzuholen und eine Ausbildung zu beginnen. Dieser unbeirrte Weg geht einher mit einer Reihe von Traditionsbrüchen (alleiniges Großziehen des Sohnes, Ehebruch, Rauchen, unverheirateter Geschlechtsverkehr, Ablegen des Kopftuches), die schließlich ihr Schicksal besiegeln. Ebenso unbeirrt ist aber auch Aynurs Familienverbundenheit. Und dieser Zwiespalt führt durch die Figurenführung des Films zu einer Erfahrung, die für das Publikum nachvollziehbar ist. 

Von Aynurs Kommentaren unterstützt macht NUR EINE FRAU schon zu Beginn deutlich, dass kulturell Außenstehende nur einen äußerst begrenzten Zugang zur Lebens- und Gefühlswelt der dargestellten Figuren werden finden können. Das Verstehen der abgebildeten Traditionslinie bleibt limitiert und die Inszenierung unterlässt es, die Figuren, ihre Hintergründe und Moralvorstellungen minutiös zu erklären. Das ist jedoch auch nicht notwendig, denn NUR EINE FRAU unternimmt weder eine ausgefeilte Psychologisierung der Figuren noch erhebt sich der Film zu einer moralischen Deutungshoheit über die Ereignisse. Zwar wird der Film durch Aynur geprägt, die Inszenierung nimmt dabei aber einen aufzeigenden statt eines anklagenden Duktus ein. Die Sichtweise der Eltern und der Brüder wird berücksichtigt und zu keinem Zeitpunkt stilistisch so ins Bild gerückt, dass sich daraus eine eindeutige Parteinahme ablesen ließe. Nichtsdestotrotz wird die erdrückende Enge der Wohnsituation körperlich spürbar oder wird das Ertragen der sich zuspitzenden Übergriffe zu herausfordernden Momenten. Die Reflexion des Gezeigten und etwaige Positionierungen überlässt der Film seinen Zuschauer*innen. „Ich habe mich bislang noch nie mit diesem Thema auseinandergesetzt, es hat mich wachgerüttelt und ich bin froh, den Film gesehen zu haben, da er mich zum Nachdenken angeregt hat.“ (Janat, 17 Jahre). 

Gezeigt wird eine Familie, die (überwiegend) in starren patriarchalich-archaischen Strukturen verharrt. Daraus entsteht ein Weltbild mit einer Geringschätzung und völligen Bevormundung von Frauen, das ihnen keinerlei eigene Rechte zubilligt. Ehre und Schande werden dabei als zwei zentrale Begriffe ausgestaltet und zur oberen Maxime erhoben, sodass sie an manchen Punkten Menschlichkeit und Ratio überdecken. Die Schüler*innen bezeichneten die Brüder immer wieder als frauenfeindlich, unterdrückend, gewaltbereit. „Ihre Eltern redeten ihr ein, dass sie eine Schande für die Familie und die Religion wäre.“ (Carolina, 16 Jahre). Die Brüder bringen die Versehrtheit ihrer Ehre durch ein pejoratives Gebaren, Beleidigungen, Drohungen, einen sexuellen Übergriff und den Mord deutlich zum Ausdruck. Über das Leben von Frauen zu entscheiden, legitimiert sich bei ihnen durch die Auffassung ihrer Religion. 

Dass Aynur trotz des starken Drucks nicht kapituliert, sondern sich weiterhin für ihre Wertvorstellungen einsetzt, sich der kulturellen Ge- und Verbote widersetzt und ihren Weg konsequent weiterverfolgt, wurde von den Schüler*innen durchgängig goutiert. Liefe nicht alles auf das tragische Ereignis hinaus, dann erzählte NUR EINE FRAU eine motivierende Emanzipations- und eine gelungene Integrationsgeschichte. Die Aussagen der Schüler*innen über den Mord wiederum lassen sich unter die Begriffe Fassungslosigkeit und Unverständnis subsumieren. 

Der Mord an Aynur bedeutet jedoch nicht das Ende der Erzählung. Es folgt ein vierter und letzter Epilogähnlicher Akt, der das Verhalten des Umfeldes nach dem Mord bis hin zum Gerichtsprozess verdichtet. Weil Aynur eine Erzählerin aus dem Jenseits ist, kann sie auch dieses Geschehen kommentieren. Verdeutlicht wird hierbei die Ohnmacht einer rechtsstaatlichen Gesellschaft, der es weder gelungen ist, Aynur zu schützen noch alle an der Tat Beteiligten zur Rechenschaft zu ziehen. 

NUR EINE FRAU konzentriert sich ausnahmslos auf Aynurs eindrückliche Geschichte. Der Film verzichtet auf eine Weitung des Blicks, die über diese eine Perspektive hinausginge. So bleibt beispielsweise unerwähnt, dass derartige Mordfälle ein interkulturelles Problem sind, das sich nicht auf einen Kulturkreis beschränkt. Nichtsdestotrotz hinterlässt NUR EINE FRAU die Zuschauer*innen mit drängenden grundsätzlichen Fragen und einer klaren Haltung. Der Film ist als spezifisches Beispiel für einen deutlich komplexeren Diskurs lesbar. Denn Aynur steht sinnbildlich für alle Opfer eines solchen Verbrechens; dies sowohl kultur- als auch geschlechtsunabhängig. Einer beträchtlichen Anzahl der Schüler*innen war der Begriff Ehrenmord unbekannt und sie wurden erstmals durch den Film damit konfrontiert. Grund- und Menschenrechte sind die elementaren Schlagworte, die der Film evoziert. NUR EINE FRAU stellt seinen Zuschauer*innen mit Nachdruck die Aufgabe, Aspekte wie Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu diskutieren. 

Dr. Gregory Mohr, Filmwissenschaftler

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SKIN (USA 2018)
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Der kahlrasierte und tätowierte Bryon „Babs“ Widner lebt auf einem alten Farmgelände im Hinterland Ohios in einer Gruppe weißer Suprematisten – dem Vinlanders Social Club. Die Oberhäupter Fred und Shareen Krager, die sich von allen Mitgliedern „Ma“ und „Pa“ nennen lassen, holten Bryon in jungen Jahren von der Straße, nahmen ihn bei sich auf und wurden zu seiner Ersatzfamilie. Bei einem Aufmarsch der rechtsextremen Splittergruppe in Columbus kommt es zu einer Kollision mit schwarzen Gegendemonstranten.  Der junge Rechtsterrorist Bryon schlägt einen jugendlichen Afroamerikaner beinahe tot und ritzt ihm ein nationalsozialistisches Symbol in die Wange. Eine Staatsanwältin bietet Bryon nach seiner Verhaftung die Chance zum Ausstieg an. Doch er weiß genau, was in dieser Szene Verrätern angetan wird und lehnt ab. Die Mutter des Opfers konfrontiert ihn anschließend auf der Straße, wobei sich in Bryon erste Zweifel an seiner Ideologie und an seinen Taten abzeichnen Sie verstärken sich, als er auf einem Musik-Festival Julie und deren drei Kinder kennenlernt und sich in sie verliebt. Fred und die anderen Mitglieder zweifeln zunehmend an Bryons Loyalität. Als Bryon auf eigene Faust den Ausstieg wagen möchte, setzen sie ihn gehörig unter Druck, indem sie sein Leben und das seiner neuen Familie rund um Julie bedrohen. Hilfe bietet ihm der Menschenrechtsaktivist Daryle Lamont Jenkins mit einem Aussteigerprogramm an. Bedingung ist, dass Bryon gegen seine ehemaligen Mitstreiter aussagt. Bryon nimmt die Unterstützung an und schließlich gelingt ihm der Ausstieg. 

SKIN (USA 2018) ist das US-amerikanische Langfilmdebut des israelischen Filmemachers Guy Nattiv, der kurz zuvor für seinen gleichnamigen Kurzfilm mit einem Academy Award ausgezeichnet wurde. Das im Film dargestellte Geschehen basiert auf der wahren Geschichte des Bryon Widner, der zu den meistgesuchten Rechtsradikalen des FBI zählte und nach wie vor als einer der bekanntesten Szeneaussteiger gilt. Bereits 2011 arbeitete Bill Brummel in seinem Film HASS AUF DER HAUT (USA 2011) Widners Geschichte dokumentarisch auf. 

Bemerkenswert ist die Aktualität des Filmstoffes. Die Erstürmung des Capitols, der Anschlag in Charlottesville, die Taten der Proud Boys“ oder der „Atomwaffen Division“ – all dies sind Beispiele für rechtsextremistische Gewalt, die sich keinesfalls auf die USA beschränkt. Auch in Deutschland gibt es einen Ableger der „Atomwaffen Division“ und weitere, ähnlich organisierte Strukturen mit den gleichen Zielen. Situiert ist SKIN im sogenannten Rust Belt, einer einst prosperierenden Industrieregion, von der heute weite Teile von Armut, Verfall und Perspektivlosigkeit geprägt sind – soziale Zustände, die einen Nährboden für extremistisches Gedankengut bereiten können. 

Geprägt wird Bryon von den autoritären Bezugspersonen Fred und Shareen. Sie nutzen seine Orientierungslosigkeit aus, um ihn mit ihrem Synkretismus aus nationalsozialistischem Gedankengut und nordischer Mythologie zu jenem hasserfüllten, gewaltbereiten Menschen zu formen. Die beiden sorgen dafür, dass die Heranwachsenden in ihrer „Familie“ in ein emotionales sowie ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis geraten, aus dem es aufgrund der streng hierarchischen Organisation und des gewaltigen Gruppenzwangs kaum ein Entkommen gibt. Während Shareen ihren „Kindern“ verniedlichende Namen gibt, eine Form mütterlicher Wärme kalkuliert einsetzt und selbst in angespannten Situationen ruhig auftritt, ist Fred ein hitzköpfiger, ein tradiertes Männlichkeitsbild verkörpernder Demagoge, der immer wieder blinden Hass als gemeinschaftsstiftendes Moment schürt. 

Die Nebenhandlung um Gavin, ein ebenfalls aufgenommener, orientierungsloser junger Mann, spiegelt Bryons früheren Werdegang. Er verdeutlicht das hohe Maß an Verführbarkeit, dem junge, perspektivlose Menschen unterliegen können. Gavin wird in seiner neuen Familie zu einem treuen Gefolgsmann gemacht und verinnerlicht die dort vorherrschende Ideologie widerstandslos. Wie alle seine „Brüder“ wird Gavin zu einem autoritären Charakter, wie ihn der Sozialpsychologe Erich Fromm1 beschrieb. Zu dessen wesentlichen Merkmalen zählen unter anderem Rassismus und Ethnozentrismus, Destruktivität und die extreme Hörigkeit gegenüber Autoritäten innerhalb der eigenen ideologischen Gruppierung. Zwangsläufig wird das Publikum aufgefordert, die Frage zu reflektieren, wie es in einer modernen Gesellschaft überhaupt dazu kommen kann, dass Jugendliche in eine hoffnungslose Ausweglosigkeit geraten und zu sozial abgehängten und zu Hasskriminalität bereiten Menschen werden. 

1 Unterrichtsmodell zu „Furcht vor der Freiheit“: https://www.fromm-gesellschaft.eu/index.php/de/publikationen-blog/lehrmaterial/950-furcht-vor-der-freiheit-fluchten-vor-der-freiheit-unterrichtsvorbereitung-fuer-den-ethik-unterricht-pdf/file

In nahezu jeder Szene des Films ist Bryon präsent. Mit ihm erhalten wir einen direkten und konfrontativen Blick in eine rechtsextremistische Organisation, der sich, obwohl die Kamera oftmals überdurchschnittlich nah bei den Figuren ist, zu keiner Zeit voyeuristisch präsentiert. Aus Hass resultierend, kulminiert die Geschichte immer wieder in physischer Brutalität, die weder verharmlost noch ausgestellt wirkt. Im Laufe des Films setzt bei Bryon, durch mehrere synergetische Faktoren evoziert, ein Umdenken und damit einhergehend eine Distanzierung vom Vinlanders Social Club und dessen Idealen ein. „Das erste Mal, als er aus der Polizeiwache kommt und auf die Mutter trifft, deren Sohn er verletzt hat. Nochmal deutlich wird es am Abend von Halloween, als Julies jüngste Tochter ihn fragt, ob er böse sei. Er weiß zunächst keine Antwort. Als er sich dann im Spiegel anschaut, gesteht er sich ein, dass es vielleicht wirklich so ist.“ (Celina, 19 Jahre). 

 

Es setzt eine Form der Figurenentwicklung ein, die der Serienforscher Jason Mittell als die komplexeste bezeichnet und als character transformation2 kategorisiert. Dabei komme es, so Mittell, zu nachdrücklichen, langfristigen Veränderungen der Moral, der Lebenseinstellung, des Weltbildes und der Selbstwahrnehmung einer Figur. Sinnbildlich dafür stehen Bryons Tattoos, mit denen er seine politische Weltanschauung zutage trägt. Sie fungieren als Codes, die Insidern zeigen, dass Bryon  zur rechten Szenegehört. Auch dienen sie als honorierende Abzeichen und Auszeichnungen für seine begangenen Taten innerhalb der Szene. In mehreren eingestreuten, intensiven Prolepsen zeigt SKIN die schmerzhafte Entfernung sämtlicher rechtsextremistischer Symbole auf Bryons Haut. Bryon kämpft gegen die qualvollen Schmerzen an, die sich in der Versehrtheit seines größten Organs bildlich abzeichnen und auf auditiver Ebene durch das kakophone, unangenehme Knallen des Lasergerätes eindringlich verstärkt werden. Gleichsam werden damit die prozessualen seelischen Qualen, die Bryon erleiden muss, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, zum Ausdruck gebracht. Diese dramaturgisch geschickt eingestreuten Szenen der Laserbehandlungen führen zu der Erkenntnis, wie schwierig es ist, sich von einer im Film beschriebenen Organisation zu lösen. 

2 http://mcpress.media-commons.org/complextelevision/character/

Im Vergleich zu den anderen Projekt-Filmen  wurde SKIN  ablehnend und kritisch durch die Schüler*innen diskutiert. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens bezieht sich SKIN stilistisch auf Vorbilder des sozialrealistischen Films und bildet überwiegend eine trostlose Lebenswirklichkeit ab. „Die Musik und der Stil lassen alles negativ wirken.“ (Burci, 18 Jahre). Und in der Tat inszeniert Nattiv eine Welt, in der (nahezu) nichts Schönes existiert, die überwiegend grau, aussichtslos und von Gewalt geprägt ist. Der heterogene Soundtrack, der unter anderem die DoomMetal-Band Doomstone, Wolfgang Amadeus Mozart und den Loner-Folk von Philip Levin paart, unterstreicht Bryons Gefühlszustände, verfehlt dabei aber den Mehrheitsgeschmack des jugendlichen Publikums. Zweitens beklagen viele Schüler*innen zu viele offene Stellen, die der Plot nicht schließt. Hintergründe zu den Figuren werden zwar angerissen, ihnen fehlen aber Klarheit und Ausführlichkeit, sodass sie von vielen Schüler*innen als unbefriedigend eingestuft werden. Die Verhaltensweisen der Figuren werden kaum individuell erklärt. Nattiv verzichtet auf eine Ausformulierung biografischer Details und ideologischer Hintergründe, weil er den Fokus eindeutig auf Zustand und Entwicklung legt. Dadurch erhalten die Figuren, allen voran Bryon, keine eindeutige, motivationale Backstory Wound, die beim Publikum eine Parteinahme für eine Figur verstärken kann 

Dennoch formulierten einige Schüler*innen aus den vagen Hintergründen, die der Film vermittelt, Erklärungsansätze für Bryons Verhalten. Er stamme aus einem „dysfunktionalen Elternhaus“ (Hiba, 17 Jahre) und seine neue „Familie“ sei für ihn ein Surrogat. „Byron ist in dieser Szene groß geworden. Ich denke, das Machtgefühl ist für ihn faszinierend. Außerdem ist dies seine Familie, da er seine als Kind verloren hat.“ (Klara, 20 Jahre). Von anderen wird Bryon lediglich als Loser eingeordnet, der sein mangelndes Selbstwertgefühl zu kompensieren versucht, weil er im Vinlanders Social Club „jemand ist und anerkannt wird und nicht wie im echten Leben ein Verlierer ist.“ (Yonan, 23 Jahre). Daraus wiederum ergibt sich drittens, dass Bryon keine Leinwandfigur ist, die die Zuschauer*innen zu Identifikation und Empathie einlädt. Bryon bewegt sich in einem Umfeld, das den Schüler*innen unbekannt ist, wird bestimmt von mangelnder Impulskontrolle und einer Ideologie, die von den Schüler*innen im Projekt nicht nachvollzogen werden kann. Und viertens gelingt es der Liebesgeschichte zwischen Bryon und Julie nicht, ein breites jugendliches Publikum emotional zu berühren, weil dafür das äußerliche Erscheinungsbild der Figuren und auch ihre Handlungen zu unkonventionell sind. 

Die Reaktionen der Schüler*innen unmittelbar nach der Filmsichtung decken sich nicht mit jenen in den Fragebögen. Als Primärwirkungen nach der Sichtung zeigten sich Unverständnis für die Lebensweise, eine mangelnde Identifikationsbereitschaft, Empörung über die konfrontativen Szenen und generell eine Abwehrhaltung gegenüber dem Gesehenen. Die Fragebögen wiederum verdeutlichen, dass die zeitliche Distanz zu einer Reaktionsverschiebung führte und die konfrontative Machart des Films bei vielen Schüler*innen einen Reflexionsprozess in Gang setzte. „Mich hat der Film persönlich sehr mitgenommen. Ich fand ihn an vielen Stellen spannend, dann wieder traurig und brutal. Ein so ernstes Thema wurde perfekt und verständnisvoll aufgegriffen.“ (Lea, 17 Jahre). Manche Schüler*innen äußerten zwar, dass sie sich den Film nicht freiwillig anschauen würden. Sie attestierten dem Thema aber eine Wichtigkeit, weil einige Schüler*innen nur ein marginales Wissen über rechtsextremistische Organisationen hatten. Meiner Meinung nach war der Film sehr spannend sowie interessant, denn mir war zuvor nicht wirklich klar, was man unter Rechtsextremismus versteht.“ (Lisa, 17 Jahre). Alltagsrassismus ist zwar vielen Schüler*innen bekannt, doch nur sehr wenige haben bislang Erfahrungen mit Rechtsextremismus machen müssen. So gewannen manche Schüler*innen die Erkenntnis, dass Szeneaussteigern „Verfolgung, Drohung, Einschüchterung, Erpressung, Körperverletzung und sogar der Tod“ (Celina, 19 Jahre) widerfahren kann. 

Mehrere Schüler*innen sahen zwar keinerlei Bezug zwischen dem Film und der Realität, andere wiederum stellten eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen der Geschichte und rechtsextremen Auswüchsen hierzulande fest, „aber nicht in diesem extremen Ausmaß.“ (Jana, 17 Jahre). Einzelne jedoch zogen beispielsweise die NSU-Morde zum Vergleich heran und konstatierten, „die Verhältnisse hier sind erschreckend gleich.“ (Yonan, 23 Jahre). 

Insgesamt betrachtet spiegeln sich in den Aussagen ungeheure Werte von SKIN wider. Der Film schafft bei den Jugendlichen ein Bewusstsein für Demokratie gefährdende Organisationen und sensibilisiert sie für propagandistisches Gedankengut. Er veranschaulicht außerdem Hass, Ablehnung und Intoleranz als destruktive Elemente, als Entfaltungshindernisse und Unzufriedenheitsparameter des eigenen Lebens der Hauptfigur. Und schließlich wird in SKIN auch die Verführbarkeit des Einzelnen dargestellt. Weil Bryon sich am Ende des Films rehabilitieren kann, zeichnet der Film nicht nur ein Schreckensbild, sondern einen schwierigen, aber nicht unmöglichen Weg aus einer scheinbaren Ausweglosigkeit, der als zentrale Botschaft auch einige Schüler*innen erreichte und sich von ihnen auf ähnliche Situationen übertragen lässt. „Ich fand den Film gut, da er eine starke Message überträgt. Egal wie tief man in irgendeiner Organisation steckt, man es immer raus schafft, sobald man kämpft.“ (Ahmad, 23 Jahre). 

Dr. Gregory Mohr, Filmwissenschaftler 

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THE HATE U GIVE (USA 2018)
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Filmplakat THE HATE U GIVE

Die 16-jährige Starr lebt in zwei Welten: Sie wohnt mit ihrer Familie in Garden Heights, einem Vorort der fiktiven US-amerikanischen Großstadt Freemont. Er ist überwiegend von Schwarzen besiedelt und geprägt von hoher Kriminalitätsrate und prosperierendem Drogenhandel. Weil man, so Starr, die örtliche Highschool nur besuche, um high oder schwanger zu werden, schicken ihre Eltern sie und ihre beiden jüngeren Brüder Seven und Sekani auf eine fast ausnahmslos von Weißen besuchte Privatschule. Dort versucht Starr mit allen Mitteln, ihre soziale Herkunft zu verbergen. 

Eines Nachts fährt Khalil, ein Freund aus Kindertagen, Starr nach einer Party nach Hause, als sie in eine Fahrzeugkontrolle geraten. Während Starr den Anweisungen des Polizisten strikt folgt, so wie sie es von ihrem Vater Maverick vermittelt bekam, tut Khalil dies nicht. Als er nach einer Haarbürste greift, wittert der Polizist eine Gefahr und erschießt Khalil kurzerhand. 

Die Polizei will den Vorfall herunterspielen. Doch nach einer Rede der Anwältin und Aktivistin April Ofrah kommt es zu Ausschreitungen in Garden Heights. Starr soll als einzige Zeugin vor einer Grand Jury aussagen. Dies wiederum möchte der örtliche Drogenboss King verhindern, denn Khalil war einer seiner Dealer. Nach anfänglichem Zögern erkennt Starr, dass sie für ihren verstorbenen Freund sprechen muss.  Als sie erfährt, dass der beschuldigte Officer für seine Taten nicht zur Rechenschaft gezogen wird, schließt Starr sich einem Protestmarsch an. Sie gibt sich als Zeugin in Khalils Fall zu erkennen und richtet ihr Wort an die Menge. Doch die Versammlung wird von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Währenddessen setzt Drogenboss King Mavericks Geschäft in Brand. Als Maverick King daraufhin konfrontiert, gelangt Sekani durch eine Unaufmerksamkeit an die Waffe seines Vaters und bedroht King. Zwei Polizisten kommen hinzu und ziehen ebenfalls ihre Waffen. Starr stellt sich dazwischen, deeskaliert die angespannte Situation und die Waffen werden gesenkt. 

George Tilmann Jr. inszenierte 2018 mit THE HATE U GIVE (USA 2018) ein ComingofAge-Drama, das sich stets auf Augenhöhe mit dem jugendlichen Zielpublikum befindet. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Debütroman von Angie Thomas aus dem Jahr 20171. Thomas war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erst 19 Jahre alt und damit kaum  älter als die Protagonistin Starr. Ihren YoungAdult-Roman verfasste sie als Reaktion auf die tödlichen Schüsse auf Oscar Grant, Trayvon Martin und Tamir Rice, die alle von Sicherheitskräften ermordet wurden. Die Filme mit einer ähnlichen Grundthematik wie Ryan Cooglers FRUITVALE STATION (2013), der den Fall Oscar Grant filmisch adaptiert, oder DETROIT (2017) von Kathryn Bigelow richten sich primär an ein erwachsenes Publikum. Tilmans Film dagegen nimmt eine jugendliche Perspektive ein und bietet der Zielgruppe zahlreiche Anknüpfungspunkte. Er verzichtet dabei auf eine einseitige Darstellung der Ereignisse und vermittelt seinem Publikum einen tief ineinander verschachtelten, aber zielgruppengerechten Themenkomplex aus Rassismus, Chancenungleichheit, Gerechtigkeit und Identität. In diesem Komplex verzichtet Tilmann auf eine Ursachenforschung. Vielmehr beschreibt der Regisseur präzise einen Ist-Zustand. Er zeigt, wie der Blick der Protagonistin auf ihr soziales Umfeld durch eine Gewalttat erschüttert wird und in ihr einen Entwicklungsprozess einleitet. 

Im Zentrum von THE HATE U GIVE steht Starr. Die Ereignisse kreisen um sie, werden überwiegend aus ihrer Perspektive erzählt und durch ihr Voiceover kommentiert. Gerade das Voiceover öffnet eine weitere Beziehungsebene zwischen Starr und den Zuschauer*innen. Ihre Gedankenwelt und ihre Gefühle werden unmissverständlich artikuliert und können nachempfunden werden. Daraus entsteht ein immersiver Sog, der die Teilhabe des Publikums am Geschehen fördert. Darüber hinaus verfügt Starr über Eigenschaften, die sie als Ankerfigur mit hohem Identifikationsangebot für das junge Publikum prädestinieren. Sie wird als „cool“, „freundlich“, „selbstbewusst“ beschrieben. 

Mut und Zielstrebigkeit wurden von den Schüler*innen besonders häufig mit Starr assoziiert. „Sie hat ein Ziel vor Augen und kämpft dafür.“ (Laurin, 18 Jahre). „Sie setzt sich stark für ihre Rechte ein und lässt sich nicht einschüchtern.“ (Felix, 17 Jahre). Transportiert werden all diese Attribute durch eine authentische darstellerische Leistung. 

1 https://angiethomas.com/

Das auffällige doppelte „r“ in Starrs Namen steht stellvertretend für die zwei Realitäten, in denen sie sich zu Beginn des Films befindet. Starrs private und schulische Umgebung könnten unterschiedlicher nicht sein, was auch auf stilistischer Ebene widerhallt. „Die unterschiedlichen Orte wurden mit der passenden Musik untermalt. Z.B. wurde im ‚Ghetto‘ klischeehafte Musik gespielt und beim Zeigen der Privatschule wurde ‚weiße Pop-Musik‘ gespielt.“ (Jakob, 16 Jahre) Warme, Vertrautheit suggerierende Farben kennzeichnen die Szenen in Garden Heights. Weiche, ausgewaschene, blaustichige Farben dagegen die Szenen in der Schule. Zudem verblasst dort Starrs Gesichtsfarbe merklich, sodass sich die Hautpigmentierungen zwischen ihr und ihren Mitschüler*innen angleichen. Die Grenze zwischen den beiden Lebenswelten gestaltet Starr trennscharf und das Doppelleben wird für sie zu einer Belastung. Damit transportiert der Film ein markantes Kennzeichen der adoleszenten Entwicklungsphase, nämlich die innere Zerrissenheit, buchstäblich nach außen. Widersprüchliche Gefühle werden auf Starrs Gesicht ablesbar und durch das Voiceover hörbar. 

Jugendliche in Starrs Alter schwanken in ihrem Individuationsprozess häufig zwischen Kontinuitäts- und Veränderungswünschen. Für Starr wird ihre Persönlichkeitsbildung zu einer Belastung. Ihre innere Krise wird massiv von äußeren Entwicklungen angestoßen und kongruiert mit dem dramaturgischen Anstoß – dem Mord an Khalil. Dieses Ereignis besitzt eine seismische Kraft und erfüllt mit seiner Relevanz, seiner Imprädiktabilität und Konsekutivität sowie seiner Irreversibilität und Non-Iterativität sämtliche Kriterien, die der Erzähltheoretiker Wolf Schmid für eine hohe Ereignishaftigkeit postuliert. Starrs Leben wird daraufhin nachhaltig erschüttert. Die zuvor für sie abstrakten Warnungen ihres Vaters werden buchstäblich zur greifbaren Realität. Ihr Gesellschaftsbild erhält tiefe Risse. Sie muss, um sich zu positionieren, einen eigenen Entschluss fassen, während stark divergierende Ratschläge und Forderungen von verschiedenen Seiten auf sie einwirken. Ihre Mitschüler*innen erscheinen ihr zunehmend genauso bigott wie ihr eigenes Code-Switching und die strikte Trennung ihrer beiden Lebenswelten weicht zunehmend auf. Die Entwicklungen führen schließlich zu Starrs politischem ErwachenSchließlich findet Starr ihre Stimme: My name is Starr! And I’m the one who saw what happened to Khalil! I am the witness! But so are you all! We are all witnesses to this injustice! We see it all, and we will not stop until the world sees it too! We will not stop protesting!“ Durch die Inszenierung erleben die jugendlichen Zuschauer*innen diese Phase in Starrs Leben hautnah mit. 

Das zentrale Thema des Films ist Rassismus, also eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Regisseur Tilman verzichtet auf eine einseitige Darstellung der Geschichte. Dadurch bleibt der Facettenreichtum der Thematik erhalten. So wird beispielsweise King als brutaler Tyrann und nicht als Opfer des Systems dargestellt. Tilmann greift ein brisantes und hochvirulentes Thema auf, das durch regelmäßige Negativvorkommnisse immer wieder in den Fokus medialer und sozialer Aufmerksamkeit rückt. „Der Film greift ein absolut aktuelles Problem auf. Die Polizeigewalt und den Rassismus gegenüber Schwarzen. Dieser ist nach wie vor ein großes Thema, welches immer wieder die ganze Welt erschüttert […] Wie kann es sein, dass ausgerechnet die Menschen, die uns schützen sollen, die Menschen sind, vor denen sich schwarze Mitbürger fürchten müssen?“ (Klara, 20 Jahre). 

Der individuelle Rassismus des Polizisten steht für ein allgemeines und sehr weitreichendes gesellschaftliches Phänomen, das sich besonders in jenen Gesellschaften zeigt, deren koloniale Geschichte auch heute noch einen Teil ihres Reichtums begründet. Die meisten Schüler*innen sind sich sicher, dass solch eine Szenerie auch in Deutschland und in allen anderen Ländern dieser Welt vorkommen kann. „Ich glaube, die Geschichte könnte sich überall zu ereignen.“ (Ikram, 17 Jahre). Die meisten betonen allerdings, dass es in Deutschland nicht zu einer solch brutalen und radikalen Auseinandersetzung käme, wenngleich eine Schülerin konstatiert, dass die Polizeigewalt auch in Deutschland zunehme. Andere Schüler*innen übertragen die FilmEreignisse auf unsere konkrete gesellschaftliche Situation. „Man könnte es damit vergleichen, dass es genauso Vorurteile in Deutschland gegen den Islam gibt.“ (Marwa, 17 Jahre). 

Einige Schüler*innen schildern aus ihrem Erfahrungshorizont heraus auch einen institutionellen Rassismus. Also jene Form, bei der Menschen in der Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt eine individuelle oder kollektive Benachteiligung oder Ausgrenzung erfahren. Erwähnt wurde insbesondere, dass Menschen mit Migrationshintergrund bei der Arbeitssuche und der Vergabe von Ausbildungsplätzen und im öffentlichen Dienst benachteiligt würden. Die Schüler*innen beschreiben damit eine Problematik, deren Wurzeln ins Institutionelle, Strukturelle, Systemische reichen. 

Einige Schüler*innen beschreiben auch Situationen, in denen sie sich mit individuellem Alltagsrassismus konfrontiert sahen. „Ich selbst habe viele Situationen gehabt, wo ich selbst runtergemacht worden war, wegen meinem Kopftuch.“ (Burcin, 17 Jahre). Manche schildern auch die Allgegenwärtigkeit an öffentlichen Orten wie „Straße, Bahn, Schule“ (Islam, 19 Jahre). Es stellt sich gleichzeitig die Frage, wie solchen Situationen zu begegnen ist. Die Schüler*innen konstatieren, dass man gegen Rassismus argumentieren und demonstrieren müsse, dass das Thema konsequenter diskutiert und stärkere Aufklärungsarbeit geleistet werden müsse. 

THE HATE U GIVE triggert viele Reflexionsfragen. Wer wird in unserem Gesellschaftsbild in- und wer exkludiert? Wie gestaltet sich unsere Mehrheitsgesellschaft, die von einem „Wir“ ausgeht und dabei „Andere“ isoliert? Wo begegnet uns Rassismus im Alltag und muten wir selbst anderen unbewusst Alltagsrassismen zu? Wie können wir intervenieren, wenn wir offensichtliche Ungerechtigkeiten erleben? Neben diesen Fragen sendet der Film die klare Botschaft, „… dass alle Menschen gleich sind und nur die Gesellschaft sie zu dem macht, was sie sind.“ (Emil, 16 Jahre). Diese Botschaft enthält einen auffordernden Charakter. 

Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“, schrieb der Soziologe Albert Memmi2. THE HATE U GIVE regt sein Publikum und auch die beteiligten Schüler*innen an, darüber nachzudenken und dem entgegenzutreten. Am Ende des Films steht Hoffnung statt schierer Verzweiflung und die semantische Bedeutung des Namens „Starr“ (Leuchten) bekräftigt dies. „Wir sind alle gleich viel wert.“ (Jannat, 17 Jahre). 

2 https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/rassismus/dossier/was-ist-rassismus/

Dr. Gregory Mohr, Filmwissenschaftler

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Meinungsbilder

Reflexionen über die Meinungsbilder der am Projekt beteiligten Schüler*innen

Grundsätzliches Ziel des Deutschunterrichts ist die Förderung der Kulturtechniken im Zusammenhang mit Sprechen, Lesen und Schreiben. Er ist aber ebenso darauf ausgerichtet, die Schüler*innen dahingehend zu fördern, dass sie am kulturellen Leben in seinen vielfältigen Formen aktiv und verständig teilnehmen können. In der Regel stellen Texte die Basis des Unterrichts dar, die, insbesondere von Schüler*innen mit Migrationshintergrund, trotz des Einsatzes kreativer Methoden und unterschiedlicher Sozialformen, als langweilig und anstrengend empfunden werden. Die Möglichkeit, den Deutschunterricht in der Zweijährigen Höheren Berufsfachschule der Schulze-Delitzsch-Schule in Wiesbaden, die überwiegend von Schüler*innen mit Migrationshintergrund besucht wird, mit dem Kinoprojekt LERNORT KINO kombinieren zu können, stellte sich deswegen als willkommene Ergänzung zum Schulunterricht heraus. Denn wenn ein Bild mehr als 1.000 Worte sagt, wie viel sagt dann erst ein Film?

Vorbereitend und begleitend zum Kinoprojekt wurden im Deutschunterricht Kurzgeschichten zu Themen wie Vorurteile, Gleichberechtigung, Geschlechterrollen, Rassismus und Zusammenleben von Kulturen ausgewählt. Die Schüler*innen haben für die Kurzgeschichten ein Ende verfasst, Beziehungen in Standbilder umgesetzt, Charaktere und Verhaltensweisen analysiert und diskutiert. Sie waren teilweise verwundert über die Inhalte oder die verwendete Sprache und haben das Ende abgelehnt, aber eine emotionale Betroffenheit, Identifikation oder Empathie konnten die Kurzgeschichten kaum erzeugen.

Anders gestaltete sich das Unterrichtsgeschehen bei der Reflexion der im Kinosaal des Murnau-Filmtheaters gezeigten Filme. Der Film THE HATE U GIVE (USA 2018), in dem der afroamerikanische Khalil von einem weißen Polizisten erschossen wird, hat alle Schüler*innen mitgenommen, auch, da er durch die Tötung des US-Amerikaners Georges Floyd im Jahre 2020 eine ungeahnte Aktualität hatte. In der Klasse wurde über das Verhalten und die Entwicklung der Protagonistin Starr, die sich nach der Tötung ihres Freundes beginnt zu engagieren, ebenso diskutiert, wie über ein mögliches Mitverschulden des getöteten Khalil durch Fehlverhalten. Zudem wurde im Unterricht die Frage diskutiert, ob ein solcher Vorfall auch in Deutschland denkbar wäre. Die Schüler*innen waren sich einig, dass eine ungerechtfertigte Tötung durch die Polizei zwar eher unwahrscheinlich sei, Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland aber deutlich häufiger Repressalien durch die Polizei erfahren würden. Ihre Einschätzung untermauerten einige Schüler*innen mit zum Teil erschütternden Erlebnissen von Diskriminierung in ihrem Lebensalltag.

Nach der Sichtung des Films NUR EINE FRAU (D 2019), der vom Mord an der türkisch-kurdischen Berlinerin Hatun Sürücü durch ihren eigenen Bruder handelt, herrschte in der Klasse Entsetzen und Wut – Entsetzen darüber, dass auch in Deutschland offensichtlich noch immer muslimische Mädchen zwangsverheiratet werden, es in Deutschland zu Morden aus dem Grund der Wiederherstellung der familiären Ehre kommen kann und das Strafmaß für die Täter nicht hoch genug ausfällt. Bei den muslimischen Schüler*innen dominierte die Wut, da sie ihre Religion falsch bzw. zu einseitig dargestellt sahen. Sie machten darauf aufmerksam, dass es in jeder Religion extreme Ausprägungen gäbe, diese aber die Minderheit darstellten. Sie erzählten von „ihrer“ Religion, den fünf Säulen des Islam, von Problemen während des Fastens aber auch vom Fastenbrechen. Davon, wie problematisch es sei, die täglichen Gebete in den Alltag zu integrieren, von Almosen und warum sie ein Kopftuch tragen bzw. nicht tragen würden. Eine Muslima erzählte davon, wie ihre Großmutter versucht hätte sie davon zu überzeugen, auf das Kopftuch zu verzichten – weil sie mit Kopftuch in Deutschland keine Chance hätte, einen guten Job zu bekommen. Die Klasse hörte still zu, denn das Erzählte war nicht nur interessant, viele sahen sich ertappt und ihre Vorurteile hinterfragt.

Der Film LOVE, SIMON (USA 2018), in dem ein homosexueller Junge von einem Mitschüler geoutet wird, brachte die hitzigsten Diskussionen mit sich, da die Einstellung der beteiligten Schüler*innen zu Homosexualität die komplette Bandbreite der Möglichkeiten widerspiegelte. Insbesondere die Schülerinnen waren offen und erzählten von homosexuellen Frauen oder Männern im Freundeskreis. Für sie gehört Homosexualität zur Normalität. Anders verhielt es sich bei Teilen der Mitschüler. Einige hatten keine Meinung oder waren albern, andere waren der festen Überzeugung, Homosexualität sei ein Tabu. Als Gründe führten sie an, dass „es“ unnatürlich sei, eklig und außerdem Gotteslästerung. Interessant hierbei war, dass genau diese Schüler nach dem Film SKIN (USA 2018) die Neonazis als dumm und unreflektiert betitelten, weil sie Menschen anderer Hautfarbe nur aufgrund ihrer Äußerlichkeiten hassten. Mit ihren eigenen Aussagen konfrontiert, wurde es zunehmend lauter und teilweise unsachlich, denn es herrschte ein absolutes Unverständnis über die jeweils andere Meinung.

Aus Sicht der beteiligten Lehrer*innen der Schulze-Delitzsch-Schule in Wiesbaden war das Projekt ein voller Erfolg. Entgegen der Befürchtung kamen die fachlichen Inhalte Sprechen, Lesen und Schreiben nicht zu kurz, sondern wurden mit einer ungeahnten Leidenschaft ausgeführt, sodass die Projektbeteiligung als willkommene und vor allem nachhaltige Erweiterung des traditionellen Unterrichts gewertet werden kann. Durch die emotionale Anteilnahme und Betroffenheit sowie durch die Identifikation mit Charakteren und Situationen, waren die Schüler*innen motiviert, ihre Meinung zu äußern, zu diskutieren, ihre Einstellung zu reflektieren und ihr Verhalten zu überdenken. Dabei wurden sie mit anderen Meinungen konfrontiert, sie haben diskutiert, versucht zu überzeugen und erkannt, dass unterschiedliche Meinungen und Einstellungen akzeptiert sowie toleriert werden müssen und manchmal auch helfen, den eigenen Horizont zu erweitern. So funktioniert Demokratie!

Autorin:
Susanne Jung, Lehrerin an der Schulze-Delitzsch-Schule, Wiesbaden

Filmfragebögen

Die Fragebögen können als Arbeitsmaterialien genutzt werden und/oder inhaltliche sowie thematische Impulse geben, wenn diese Filme im Rahmen von Projektvorhaben oder im Unterricht zum Einsatz kommen.   

Filmplakat Jojo Rabbit
Fragebogen
Filmplakat Love Simon
Fragebogen
Filmplakat Nur eine Frau
Fragebogen
Fragebogen
Filmplakat THE HATE U GIVE
Fragebogen

Checkliste

Die Checkliste soll der Orientierung dienen und Impulse für die Durchführung eigener Medienkompetenzprojekte geben.

Filmanalyse: Arbeitsblatt und Mini-Lexikon

Das Arbeitsblatt kann begleitend zu einer Filmsichtung als Einstieg genutzt werden, um sich mit dem Thema Filmanalyse zu beschäftigen. Das Mini-Lexikon dient als Nachschlagewerk für die einzelnen Fachbegriffe.

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