„Im Kino gewesen. Geweint.“
Franz Kafka, Tagebuch 20.11.1913

Der Tagebucheintrag von Franz Kafka entstand nach dem Besuch eines vier Filme umfassenden Kinoprogramms in Prag; zudem wohl auch unter dem Eindruck der erst vor wenigen Wochen erfolgten Trennung von Felice Bauer. Kafka war ein leidenschaftlicher Besucher des Kinematographen, wie Hanns Zischler in Kafka geht ins Kino akribisch nachzeichnet und anmerkt: „Kinobilder haben, kunstvoll getarnt, zahlreiche Szenen von Kafkas Prosa imprägniert.“1

Weinen ist nicht gut – oder?

Rund 94 Jahre später führten im Kinosaal vergossene Tränen zu einer bemerkenswerten Diskussion in Erfurt. In der Wettbewerbskategorie Kino-/Fernsehfilm des Deutschen Kinder-Film & Fernseh-Festivals GOLDENER SPATZ 2007 liefen 13 Spielfilme, die sich dem kritischen Blick der 32-köpfigen Kinderjury stellten, in der Mädchen und Jungen im Alter von 9 – 13 Jahren aus dem ganzen Bundesgebiet vertreten waren. Die Kategorie war hochklassig und vielseitig besetzt.

Jeder Titel wurde ausführlich diskutiert: Was spricht für eine Auszeichnung, was dagegen?

Als Gegenargument kam, dass der Film im Kino viele Zuschauer*innen zum Weinen gebracht habe. Weinen sei doch nicht gut, so dass man lieber einen anderen Film auszeichnen solle. Daraufhin entspann sich eine leidenschaftliche Diskussion darüber, ob das Weinen der Zuschauer*innen im Kino ein Qualitätskriterium sei oder nicht. Eine knappe Mehrheit befand schließlich, dass dem so sei, denn es spräche doch für einen Film, der „nicht echt“ ist, eine so starke „echte“ Reaktion wie Weinen auszulösen. Zudem werde ein selten aufgegriffenes Thema gezeigt, das von den Schauspieler*innen ausdrucksstark und realistisch umgesetzt wird und zum Nachdenken anregt.

So gewann MONDSCHEINKINDER einen Goldenen Spatz.

Die intensive Diskussion und der Entscheidungsprozess der Kinderjury bringen bereits verschiedene Potentiale des Mediums Film in einem generationenübergreifenden Demokratiediskurs zum Ausdruck.

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Filme evozieren Gefühle. Wir weinen, lachen oder gruseln uns – so ist die Rezeption von Filmen eine sinnliche Erfahrung. Zudem ist sie eine kognitive Erfahrung, wie die Kinderjury mit „der Film regt zum Nachdenken an“ zum Ausdruck bringt.

Ob Lisa, die ohne Vater aufwächst, ihren Bruder verliert und sich das erste Mal verliebt oder Katniss Everdeen aus DIE TRIBUTE VON PANEM – HUNGER GAMES (USA 2012), die anstatt ihrer Schwester in die „Hungerspiele“ eines totalitären Staates zieht, um schließlich zum Sinnbild einer Revolution zu werden. Ob Arthouse oder Blockbuster, ob direkt angesprochen oder im Genregewand: Die Filmgeschichte ist reich an jungen Protagonist*innen in extremen Lebenssituationen. Sie ermöglichen dem Publikum, diese Situationen mit ihren Augen zu sehen und sich in sie hinein versetzen zu können. Somit ist die Filmrezeption eine Reise, ohne den Ort zu verlassen, die Emotionen auslöst und zum Nachdenken, zur Selbstreflexion anregt: Warum macht mich das jetzt so traurig? Wie würde ich mich verhalten? Wäre ich liebevoll und solidarisch oder würde ich nur an meine Bedürfnisse denken? Stelle ich Regeln in Frage oder wäre ich gehorsam?

Alles Fragen von großer Relevanz für Heranwachsende, die gerade ihre eigene Identität ausbilden, sich in der Welt verorten und Entscheidungen treffen müssen, die ihr weiteres Leben berühren.

Filme bieten bei dieser Bewältigung herausfordernder Lebenssituationen eine Vielzahl von Handlungs- und Deutungsmustern. Die Filmrezeption lädt ein, diese mit eigenen Erfahrungen und Haltungen in Beziehung zu setzen und dabei beizeiten auch seine „Komfortzone“ zu verlassen und neu zu bewerten. So können Heranwachsende bei der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben unterstützt werden, oder wie es ein Teilnehmer der EFA YOUNG AUDIENCE SUMMIT im April 2021 zum Ausdruck brachte: Film…builds our characters in real life and that’s what helps us grow as people.2 Hier liegt ein Potential des Mediums.

Dies kann individuell auf dem heimischen Sofa geschehen, wird jedoch intensiviert, wenn man einen Film gemeinsam mit vielen anderen im Kinosaal sieht. Greift man zum Taschentuch und bekommt mit, dass dies auch andere tun, setzt man sich nicht nur mit der Filmfigur in Beziehung, sondern fühlt sich auch den Mitsehenden verbunden. Eine weitere Intensivierung erfolgt, wenn es im Anschluss die Möglichkeit des Austauschs über das Gesehene gibt. Ein Austausch, der wie beim Beispiel Kinderjury dazu führt, Handlungs- und Deutungsmuster zu diskutieren und auszuhandeln.

Dieses diskursive Potential des Mediums Film sollte in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts, die geprägt sind von einer globalen Pandemie, dem Aufstieg von Populisten und der Verbreitung von Verschwörungstheorien stärker denn je genutzt werden.

Richard David Precht nimmt die Corona-Krise zum Anlass, zu beleuchten, wie es um das Verhältnis von Bürger und Staat und um Haltungen wie Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl bestellt ist, die für eine liberale Demokratie essenziell sind. Zum fragilen Zustand unserer Leistungsgesellschaft schreibt er:

Leistungsgesellschaften zerbröckeln dadurch, dass die soziale Durchlässigkeit austrocknet, durch Vererben verkrustet und „Leistung“ durch „Erfolg“ ersetzt wird. Die zivilgesellschaftliche Verbundenheit wird so auf eine harte Probe gestellt. Dass öffentliche Orte, an denen man sich trifft und zufällig aufeinandertrifft, insbesondere in den Stadtzentren der Klein- und Mittelstädte durch Geschäftesterben bedroht sind und mehr und mehr Menschen sich stattdessen in den Echokammern virtueller Welten aufhalten, macht die Sache mit dem Gemeinsinn auch nicht besser. Argwohn gegen Mitmenschen speist sich zumeist aus einem Mangel an echter Resonanz, der die vermisste Anerkennung nicht besser ersetzt als Pornografie eine erfüllte Sexualität.3

(Film-)kulturelle Angebote, insbesondere für Kinder und Jugendliche, können einen Beitrag leisten, diesen Verfallserscheinungen entgegenzuwirken: Sie sind Gemeinschaftserlebnis, sozial durchlässig (vor der Leinwand versammelt sich ein Publikum; Geschlecht, Herkunft, Status etc. spielen keine Rolle) und bieten reale Resonanzräume.

Projekte wie LERNORT KINO oder FILM: A LANGUAGE WITHOUT BORDERS zeigen eindringlich, wie das Kino als Resonanzraum für die Förderung zivilgesellschaftlicher Verbundenheit wirksam werden kann. FILM: A LANGUAGE WITHOUT BORDERS umfasste acht Spielfilme sowie drei Kurzfilme und wurde von Januar 2018 bis März 2019 in Deutschland, Dänemark und Großbritannien durchgeführt. Die Filmauswahl richtete sich an die Altersgruppen 7 – 11, 12 – 14 und 15 – 18. Mehr als 60 Tsd. junge einheimische und zugewanderte Menschen sahen die Filme und das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet. Zu den Schlussfolgerungen gehört:

The researchers found overall that film has a value in providing a ‘third space’ between home and school, between a child’s family origin and their new home, between teachers and pupils, and between school and the world. European film has a potentially special role in bringing people together to better understand how society is shaped, and how European people are responding to change and difference. It also enables children to learn from each other’s experience, to generate empathy, and to ‘see themselves in the face of the other’. Film cannot do this work on its own. The learning contexts, supporting materials and activities, and the skills and experience of the educators are crucial in enabling this powerful work.4

Es wird nachdrücklich zum Ausdruck gebracht, wie gut Film als niedrigschwelliges Medium als „dritter Ort“ oder eben als Resonanzraum geeignet ist, gesellschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln, gegenseitiges Lernen zu unterstützen und Mitgefühl zu fördern.

Ebenso wird die besondere Rolle des Europäischen Kinos in diesem Kontext hervorgehoben. Auch LERNORT KINO setzte in den einzelnen Projektreihen neben US-Kinoproduktionen, wie THE HATE U GIVE (USA 2018), europäische und deutsche Filme, wie NUR EINE FRAU (D 2019), ein. Somit luden unterschiedliche Herangehensweisen an die jeweiligen Themenfelder zu einem offenen Austausch ein und nebenbei wurde die Bandbreite des Kulturguts Film nahegebracht.

Ebenso wird deutlich, dass es eines erheblichen Aufwandes – und damit auch des Einsatzes finanzieller Mittel – bedarf, um über die intrinsischen sinnlich/kognitiven Möglichkeiten hinaus auch das diskursive und gemeinschaftsstiftende Potential des Mediums Film und des Ortes Kino in der beschriebenen Weise wirksam werden zu lassen.

Angesichts der schwierigen gesellschaftlichen Gemengelage werden Aktivitäten wie LERNORT KINO und weitere, die junge Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten gemeinsam Filme sehen lassen und den Austausch anregen, mehr denn je benötigt – nicht als Modellprojekte, sondern als verstetigte Initiativen in einer vielseitigen, untereinander gut vernetzten Filmbildungslandschaft.

Die Möglichkeiten für Heranwachsende, sich aktiv an gesellschaftspolitischen Prozessen zu beteiligen und dabei ihre Belange, Interessen und Bedürfnisse einzubringen, sind begrenzt. Im Sinne einer generationenübergreifenden Gestaltung unseres Zusammenlebens wäre es sinnvoll, folgende Aussage aus der BMFSFJ-Broschüre Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen und zu beherzigen bei der Planung und Durchführung von Filmbildungsvorhaben, auch wenn sie sich primär auf die Beteiligung in Kommunen bezieht:

Niemand wird als Demokrat geboren. Demokratie kann gelernt, aber nicht gelehrt werden.5

Als einer von möglichst vielen Bausteinen kann Filmbildung nicht nur durch das sinnliche, kognitive und diskursive Potential des Mediums Film zum Erlernen demokratischer Werte beitragen, sondern auch dadurch, wie sie selbst organisiert wird.

Insofern sollte die Entwicklung künftiger Aktivitäten nicht ausschließlich Erwachsenen überlassen werden, da so die Gefahr besteht, das Lebensgefühl der Zielgruppe und ihr gestalterisches Potential auszublenden. Durch die Beteiligung Heranwachsender an der Konzeption und Durchführung eröffnen sich für alle Beteiligten Möglichkeiten des „Demokratielernens“: Beispielsweise gewinnen Erwachsene ein tieferes Verständnis für die Belange und Fähigkeiten ihrer jungen Mitbürger*innen und werden inspiriert, Herangehensweisen zu überdenken und zu verändern, während Kinder und Jugendliche erfahren, wie es ist, sich aktiv einbeziehen und Verantwortung übernehmen zu können. Die Erfahrungen in Medienkompetenzprojekten wie LERNORT KINO oder die Arbeit mit Kinderfilmjurys führt jedes Mal erneut vor Augen, wie viel Kinder und Jugendliche vom Filmhandwerk verstehen, wie neugierig und genau sie hinschauen und wie diskussionsfreudig und empathisch sie agieren können. Zudem liegt hier gestalterisches Potential, so dass die Partizipation junger Menschen an Projekten der Filmbildung intensiviert werden sollte, wie folgendes Beispiel illustriert:

Im 25. Jahr des Bestehens der Europäischen Filmakademie (EFA) wurde 2012 erstmals ein Preis in der Kategorie Kinderfilm vergeben, bei dem man auf den Sachverstand der jungen Zuschauer*innen selbst baute. Mehr als 700 Kinder sichteten und diskutierten zeitgleich in sechs Ländern drei nominierte Filme und kürten mit der belgischen Produktion KAUWBOY (BEL 2012) den ersten Preisträger. Dieser YOUNG AUDIENCE AWARD ist seither stetig gewachsen. In seiner 10. Ausgabe bildeten in diesem Jahr 3600 Kinder aus 38 Ländern die Jury, die THE CROSSING (NOR 2020) auszeichnete.

Um über diesen vom Zielpublikum vergebenen Preis hinaus ganzjährig den Zugang junger Menschen zu europäischen Filmen zu fördern, hat sich die EFA mit der Idee eines Europäischen Jugendfilmclubs befasst und zu deren Weiterentwicklung einen Jugendrat ins Leben gerufen, der aus neun ehemaligen Juror*innen zusammengesetzt ist. Ein Entwicklungsschritt war die von Erwachsenen und den Jugendlichen vorbereitete EFA YOUNG AUDIENCE SUMMIT im April 2021, an der 80 Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren aus 25 Ländern teilnahmen. Die Mitglieder des Jugendrats waren Gastgeber der Summit und präsentierten ihre Gedanken über die Rolle des Films und die Etablierung eines Europäischen Jugendfilmclubs. Ein Vorhaben, das mit großem Enthusiasmus aufgenommen und diskutiert wurde. 95 % der Teilnehmer*innen waren der Meinung, dass es von jungen Menschen mitgestaltet werden sollte, so wie es auch bei der Summit der Fall war.6

So gibt es Anzeichen, dass eine ernstgemeinte Partizipation von Heranwachsenden an Akzeptanz gewinnt und weitere ähnliche Vorhaben realisiert werden können.

Im Kinosaal in einen offenen Austausch über einen Film und dessen Themenfelder zu treten, sich in einer Gruppe für die Auszeichnung eines Films zu entscheiden, gemeinsam eine Filmreihe zu kuratieren oder eine Veranstaltung zu planen und durchzuführen sind demokratische Prozesse, die bei vielen Festivals im In- und Ausland und bei Medienkompetenzprojekten bereits erfolgreich praktiziert werden. Somit können die Potentiale des Mediums Film und der Filmbildung produktiv genutzt werden, um einen lebendigen, generationenübergreifenden Demokratiediskurs zu führen.

1 Zischler, Hanns (2017): Kafka geht ins Kino. Berlin: Galiani, S. 182ff
2 EFA Young Audience Summit 2021: https://yaa.europeanfilmawards.eu/en_EN/summit
3 Precht, Richard David (2021): Von der Pflicht. Eine Betrachtung. München: Goldmann, S. 125f
4 Film: A Language Without Borders. Project Report.
https://www.visionkino.de/fileadmin/user_upload/projekte/Internationale_Projekte/film-a-language-without-borders-project-report-2019-v1.pdf, S. 7
Zudem steht ein ausführlicher Forschungsbericht zur Verfügung: https://www.visionkino.de/fileadmin/user_upload/projekte/Internationale_Projekte/film-a-language-without-borders-research-report-2019.pdf
5 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015): Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Allgemeine Qualitätsstandards und Empfehlungen für die Praxisfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- und Jugendarbeit und Erzieherische Hilfen.
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94118/c49d4097174e67464b56a5365bc8602f/kindergerechtes-deutsch-land-broschuere-qualitaetsstandards-data.pdf, S. 28
6 EFA Young Audience Summit 2021: https://yaa.europeanfilmawards.eu/en_EN/summit

Margret Albers, Medienwissenschaftlerin, Projektmanagerin Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V.

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