Mainz / Wiesbaden 29.09.2017
Zur zweiten gemeinsamen FSK-Prüfertagung luden die Obersten Landesjugendbehörden und die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) am 11. und 12. September 2017 in die Hochschule RheinMain Wiesbaden ein. An die 100 Prüferinnen und Prüfer nahmen an der zweitägigen Veranstaltung teil, die alle zwei Jahre stattfindet.
Folker Hönge (Ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK) und Christiane von Wahlert (Geschäftsführerin FSK) eröffneten die Veranstaltung und begrüßten die Referentinnen und Referenten. Keynotes, Diskussionen und Hotspots widmeten sich aktuellen medialen Trends ebenso wie Fragen aus der alltäglichen Praxis der FSK Prüfungen.
Christiane von Wahlert, die gemeinsam mit Helmut Possmann die Geschäftsleitung der FSK und der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft bildet, sieht Medienkonvergenz als zentrale Herausforderung für den Jugendschutz: Für filmische Inhalte gelten im Kino und für Video andere Bestimmungen als im Internet. Als „Kraftwerk des Jugendschutzes“ ist die FSK – in den Prüfausschüssen ebenso wie mit ihrer Abteilung FSK.online – in beiden Bereichen tätig. Daher ist es wichtig, alle Facetten aktueller Entwicklungen zu betrachten.
Grußwort zur Eröffnung
Klaus Peter Lohest, Abteilungsleiter im Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz, trug ein Grußwort von Ministerin Anne Spiegel vor. Das Digitale Zeitalter bringt neue Herausforderungen mit sich für alle, die Verantwortung im Jugendschutz tragen. Die seit Jahrzehnten bewährte und erfolgreiche Zusammenarbeit der Obersten Landesjugendbehörden mit der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft bietet eine sehr gute Basis, um gemeinsam konvergente Lösungsvorschläge für große Herausforderungen zu erarbeiten. Bei der dringend benötigten Neugestaltung von Jugendschutz und Jugendmedienschutz müssten die Inhalte im Mittelpunkt stehen – und nicht wie bisher der Verbreitungsweg. Die Unterscheidung – nach der für Kino und Video andere Rechtsgrundlagen gelten als für das Internet – werde der Mediennutzung von jungen Menschen nicht mehr gerecht.
Keynotes
Zum Thema „Digitale Gesellschaft: Chancen und Risiken der Mediatisierung“ gab Prof. Dr. Caja Thimm, Professorin für Medienwissenschaft und Intermedialität (Universität Bonn) eine hochinteressante Keynote. Sie lieferte Einblick in eine Mediennutzung von Jugendlichen, die für viele Erwachsene fremd ist. Beispiele sind sogenannte „Howler“ und „Influencer“ auf Youtube: Das sind zumeist Jugendliche, die ihre eigenen Kanäle betreiben und ein Millionenpublikum erreichen. Die Wissenschaftlerin zeigte auch, welche Bedeutung Soziale Medien bereits heute in der Gesellschaft haben – und welche Macht sich darin bündelt. Am Beispiel von „Echokammern“ führte sie vor Augen, welch problematische Phänomene bei der Nutzung von Facebook auftreten. Wie „Digital Natives“ als Nutzer heranwachsen, sieht sie aufgrund der Forschungsergebnisse kritisch: „Jugendliche sind hochaktive Konsumenten, aber sehr begrenzt kritisch.“ Ihren Vortrag brachte Prof. Thimm mit einer Forderung auf den Punkt: „Wir brauchen für ein demokratisches und tolerantes Miteinander im Netz einen nationalen und globalen Diskurs und eine Verständigung über eine Digitale Werteordnung.“
„Fahren wir oder fährt der Bahnhof?“ Mit diesem anschaulichen Bild eröffnete Stephan Dreyer (Dipl.-Jur., Senior Researcher Medienrecht & Media Governance, Hans-Bredow-Institut für Medienforschung, Hamburg) die zweite Keynote. Sie widmete sich Herausforderungen für einen zukünftigen Jugendmedienschutz und zeigte anhand von aktuellen Zahlen und Trends, dass sich die Mediennutzung von Jugendlichen längst der elterlichen Kontrolle entzogen hat. Die Abkopplung hat Auswirkung auf viele Fragen des Jugend- bzw. Jugendmedienschutzes. Dreyers Fazit lautete: „Der Zug ist noch nicht abgefahren.“ Soll sagen, dass die Herausforderungen noch immer nicht zeitgemäß angegangen wurden – es im positiven Sinne aber noch nicht zu spät ist. Aus seiner Sicht wird es notwendig sein, neuartige Instrumente wie Selbstklassifizierung zu nutzen. Nur so lasse sich der Geschwindigkeit der Entwicklung und dem Bedarf an Regelungen heute und künftig Rechnung tragen.
Zu beiden Keynotes, die anschaulich einen Einblick in den aktuellen Stand der Forschung ermöglichten, gab es eine Podiumsdiskussion mit Christiane von Wahlert und Nicole Müller, (Referatsleiterin Jugendschutz, Jugend und Medien, Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz). Frau Müller erläuterte, welche Funktion ihr Ministerium als federführende Stelle der Bundesländer beim Jugendschutz hat. Sie führte vor Augen, wie bewährt und leistungsstark die bisherige Praxis beim Jugendschutz für Kino und Video durch die Zusammenarbeit mit der FSK ist. Für die Herausforderungen des Digitalen Medienzeitalters sei ein ganzheitlicher Jugendmedienschutz gefordert.
Präsentation Lernort Kino
Ein bundesweit einzigartiges Modellprojekt wurde zum Abschluss des ersten Tages vorgestellt: Bei „Lernort Kino: Filmarbeit mit jungen Flüchtlingen“ sahen die Teilnehmenden im Berufsschulalter von September 2016 bis Juni 2017 bei der FSK einmal im Monat ausgewählte Filme an und diskutierten über Themen wie Demokratie, Toleranz und Geschlechterrollen.
„Wir sind mit den Schülerinnen und Schülern über ein Jahr hinweg einen gemeinsamen Weg der Kommunikation gegangen: Wir haben uns Jugendfilme angeschaut, um über die Geschichten, die Filmfiguren und deren Lebenswelten miteinander zu reden. Diskutiert wurde sowohl im großen Plenum im Kinosaal als auch in kleinen, zuweilen geschlechtshomogenen Gruppen. Die unterschiedlichen Identitätskonzepte der Filmfiguren eröffneten den jungen Flüchtlingen Transfers in die eigene Lebenswelt und evozierten zum Beispiel intensive Gespräche über eigene Erfahrungen mit Rassismus in Wiesbaden. Insbesondere der Austausch über traditionelle und moderne Rollenmuster führte zu gegenseitigem Kennenlernen auch der eigenen Kindheit und Jugendzeit. Filmbildung bedeutet in diesem Projekt ganzheitliche Bildung, die den Abgleich mit der eigenen Lebenswelt als Flüchtling in Deutschland nahelegt; emotional, sinnlich und intellektuell“, so die Initiatorinnen Birgit Goehlnich, Ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK, und Rita Thies, Kulturmanagement, Kultur- und Schuldezernentin a.D.
„Filme ermöglichen einen niedrigschwelligen Zugang zu den geflüchteten Jugendlichen. Im Rahmen der moderierten Gruppendiskussionen ist es gelungen, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Sie nutzten die Möglichkeit, entweder über die Inhalte der Filme zu sprechen oder aber – selbstbestimmt – einen lebensweltlichen Bezug zu eigenen Erfahrungen herzustellen. Auf diese Weise wurde deutlich, was die Jugendlichen bewegt, welche Erfahrungen sie zum Beispiel im Bildungssystem machen und welche Erwartungen und Sorgen sie haben “ so Prof. Dr. Tanja Grendel und Prof. Dr. Heidrun Schulze von der Hochschule RheinMain, die das Projekt wissenschaftlich begleiteten. Im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit Studierenden des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit analysierten sie die Transkripte der Gruppendiskussionen. Filmisch begleitet wurde das Projekt von Prof. Marc Reisner.
Die Vorträge und Filmbeispiele stießen bei der FSK-Prüfertagung auf Interesse. Besonders eindringlich waren einzelne Aussagen der Jugendlichen. Durch die Filmdiskussionen und das Projekt begannen sie sich zu öffnen. So wurde deutlich, unter welchen Existenzängsten und unter welchem Erfolgs- und Lerndruck die geflüchteten Jugendlichen stehen.
Hotspots am zweiten Tag
Drei parallel stattfindende Hotspots, von denen sich die Teilnehmenden jeweils zwei aussuchen konnten, widmeten sich Themen aus dem FSK-Alltag und dem Prüfbetrieb.
„Von der Freigabe für die Stillen Feiertage“ lautete das Thema von Dr. Reinhard Bestgen (Vorsitzender Haupt- und Appellationsausschuss FSK) und Prof. Dr. habil. Stefan Piasecki (Professur für Soziale Arbeit/Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, CVJM-Hochschule, Kassel). Sie beleuchteten die Historie und die Besonderheiten dieser Freigabe. In den 1950 Jahren waren knapp 60 Prozent der Kinospielfilme für die Stillen Feiertage nicht frei gegeben, heute sind es nur noch ein Prozent. Aufmerksamkeit hat das Thema dennoch erzielt, als ein Politiker die Abschaffung der Regelung forderte. Dass dies nicht so einfach ist, zeigen die beiden Referenten auf: Denn die Regelung ist Sache der Bundesländer, deren Bestimmungen sehr unterschiedlich gefasst sind.
„Von der Beschlagnahmung zur FSK Freigabe“ war das Thema von Sabine Seifert (Ständige Vertreterin der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK) und Christian Bartsch (Vice President of Acquisitions, Turbine Medien GmbH, Münster). Am Beispiel von „Blutgericht in Texas“ aus dem Jahr 1974 (Originaltitel: The Texas Chain Saw Massacre) zeichnete Christian Bartsch nach, wie sich Gewaltinszenierung und -empfinden im Laufe der Zeit ändern, Rechtsentscheide jedoch unverändert weiterwirken. Dem Turbine Medien Verleih gelang es, die Aufhebung der Beschlagnahme zu erwirken. Als Folge konnte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien den Film von der Indizierungsliste nehmen; anschließend wurde er von der FSK mit „Keine Jugendfreigabe“ gekennzeichnet.
„Von fremdsprachigen Filmen, Wasserzeichen und Bildqualität“ lautete das Thema von Folker Hönge (Ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK) und Stefan Linz (Leiter Prüfbereich und Leiter FSK.online). Hier ging es um Alltagsprobleme bei der Filmsichtung. Gelegentlich kommt es zum Abbruch von Prüfungen, etwa wenn auf Grund einer technisch problematischen Fassung die Jugendschutzrelevanz des Inhalts nicht eingeschätzt werden kann. Verschiedene Probleme, deren Ursachen und Lösungsansätze wurden diskutiert.
Panel der Filmbranche
„Welche Auswirkungen hat das Digitale auf die Filmbranche?“ Dieser Frage widmete sich das Abschlusspanel. Christian Bartsch, Angie J. Koch (Neuzeitmedia Film- & Medienagentur, Frankfurt), Steffen Presse (Geschäftsführer Quantum Kino GmbH Lumos Lichtspiel & Lounge, Nidda) und Paul Steinschulte (Geschäftsführer Universal Pictures International Germany GmbH, Frankfurt) diskutierten Themen wie Digitalisierung, Streaming-Dienste und Erfolgsmodelle für das Kino.
Kinobetreiber Steffen Presse erläuterte seine erfolgreiche Strategie, das Kino im ländlichen Raum als Erlebnisort zu stärken. Dazu gehöre ein breites Angebot mit Arthouse- und Mainstream-Kino, Opern-Live-Übertagungen oder „Kaffee&Kino“. Angesprochen werden alle Altersgruppen – von den Kleinsten bis zu den Senioren. Sein Haus, das weit überdurchschnittliche gute Besucherzahlen verzeichnet, hat damit beste Erfahrungen gemacht.
Christian Bartsch erläuterte den Ansatz von Turbine Medien, auf hohe Qualität als Strategie bei Video-Veröffentlichungen zu setzen. Für ihn sind Sammler die heutige Zielgruppe, nicht das einstige Videothekenpublikum. Durch einfache digitale Verfügbarkeit verschwinde viel „Video-Ramsch“. Hochwertige Editionen finden in Deutschland jedoch weiterhin ihre Käufer.
Vermarkterin Angie Koch zeigte, wie komplex die Situation bei Filmrechten geworden ist. Durch das Streaming, das in die bisherige Auswertungskette von Kino, Video und TV drückt, werde der Wettbewerb immer härter. Die neuartige Day&Date-Auswertung, bei der Filme auf mehreren Verwertungswegen gleichzeitig veröffentlicht werden, stelle die Branche vor große Herausforderungen.
Kinofilmverleih-Chef Paul Steinschulte führte vor Augen, was die Umstellung von analog auf digital mit sich führt. Heute verzeichnet das Kino bundesweit rund 130 Millionen Besucher pro Jahr. Kino muss sich, wie so oft in der Geschichte, wieder neu erfinden. Besonders ist der Kinobetreiber gefordert, ein Veranstalter zu sein und dem Publikum sein Gesicht zu bieten. In den Streaming-Diensten sieht er auch Chancen: sie bringen Kapital in die Branche. Ein Beispiel ist MANCHESTER BNEI THE SEE, der von Amazon finanziert wurde.
Ein angeregtes Gespräch mit zahlreichen Rückfragen und Wortmeldungen aus dem Publikum schloss sich an.
Abschlussdiskussion
Die Abschlussdiskussion nahm aktuelle Fragen auf. Dabei stellte Christiane von Wahlert die positive Evaluation des Einpersonen-Prüfverfahrens bei TV-Produkten auf Bildträgern vor. Zahlen belegen, dass die Prüfvoten in diesem Verfahren kaum von der früheren Spruchpraxis in Ausschüssen abweichen. Folker Hönge ermutigte die Prüfer, sich im Alltagsbetrieb mit allen Fragen an die Ständigen Vertreter bzw. an die FSK-Mitarbeiterinnen und –Mitarbeiter zu wenden.
Christiane von Wahlert und Folker Hönge dankten den Prüferinnen und Prüfern für ihre engagierte, kompetente und wichtige Arbeit: Mit 10.614 Freigaben im Jahr 2016 haben sie eine große Leistung für den Jugendmedienschutz bei Kino und Video erbracht.
Die nächste FSK-Prüfertagung wird 2019 stattfinden – dem 70sten Jahr des Bestehens der FSK.
Klaus Peter Lohest, Abteilungsleiter im Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz
Prof. Dr. Caja Thimm_x000B_Professorin für Medienwissenschaft und Intermedialität, Universität Bonn
V.l.n.r. Prof. Dr. Heidrun Schulze_x000B_Einzelfallanalyse, Hochschule RheinMain, Wiesbaden, Birgit Goehlnich_x000B_Ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK, Prof. Dr. Tanja Grendel_x000B_Soziale Arbeit in Bildungs- und Sozialisationsprozessen, Hochschule RheinMain, Wiesbaden
Prof. Dr. habil. Stefan Piasecki, Professur für Soziale Arbeit/ Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, CVJM-Hochschule, Kassel
Christian Bartsch, Vice President of Acquisitions, Turbine Medien GmbH, Münster
Fotos: Horst Martin